Nachwort zur 6. Auflage
Die 1. Aufl. dieses Buchs erschien 2005. Seither sind 19 Jahre verstrichen. In dieser Zeit war ich kontinuierlich mit dem Thema der Genogrammarbeit befasst. Es ging mir darum, den Voraussetzungen der Genogrammarbeit genauer auf den Grund zu gehen, als dies im ersten Angang der Fall war.
Einer Sache auf den Grund gehen heißt, den verwendeten Konzepten in ihrem Verweisungszusammenhang nachzugehen. Diese Aufgabe ist ein Privileg von Autoren und zugleich ihre Pflicht, denn man kann von der Leserschaft nicht erwarten, selbst die gedanklichen Zusammenhänge, die zur Debatte stehen, zu erschließen. Der Autor (weiblich oder sonst was) kann sich die Sache auch nicht einfach machen dadurch, dass er annimmt, die Leserschaft werde schon die Grundlagen kennen, auf die er sich bezieht.
Folgendes war mein Weg bei der Präzisierung der Genogrammarbeit bis auf den heutigen Tag:
2018 erschien in diesem Verlag mein Buch „Genogrammarbeit für Fortgeschrittene“. Der Untertitel lautet: „Vom Vorgegebenen zum Aufgegebenen“. Damit betone ich das Menschenbild, das meiner Vorgehensweise bei der Genogrammarbeit zu Grunde liegt. Ich werde es kurz skizzieren und dann die daraus resultierende Vorgehensweise darlegen (man kann das in diesem Buch auch nachlesen, daher genügen hier Stichworte):
Menschen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich in eine mehr oder weniger offene Zukunft hinein entwerfen. Grundlage dessen sind die Möglichkeiten, die sich ihnen bieten. Eine Gruppe dieser Möglichkeiten nenne ich das Vorgegebene: Man wird in bestimmte Zeitverhältnisse, in eine Schicht, in eine Familiengeschichte hinein geboren. Auch die von den Vorfahren ererbte genetische Disposition, die Anlagen, gehören dazu. Allerdings setzt dieser Punkt die erforderliche Sachkenntnis und Herangehensmöglichkeiten voraus. Sind sie nicht vorhanden, fällt er außer Betracht. Gleichwohl gehören die Anlagen zum Vorgegebenen. Um ein schlichtes Beispiel zu verwenden: Ist jemand mit der Konstitution eines Pyknikers (ich verwende diesen Begriff hier alltagssprachlich) zur Welt gekommen, neigt er also zu einem fülligen Körperbau, sollte er von dem Gedanken Abstand nehmen, eine Karriere als Skispringer anzustreben. Weiter: Dieses Vorgegebene ist dem Menschen zur Gestaltung aufgegeben, und, um beim Beispiel zu bleiben: Der Pykniker könnte, wenn es denn unbedingt eine Karriere im Wintersport sein muss, weil er im Allgäu aufgewachsen ist, Georg Hackl (dem Hackl Schorsch) nacheifern und Rodler werden. Zur Disposition stehen ihm dabei Möglichkeiten: Darunter sind solche, für die etwas spricht, und solche, für die nichts spricht. Wieder beim Beispiel: Für den Skispringer spricht hier nichts, für den Rodler einiges. Um dies zu erkennen, muss man kein Mediziner sein, es reicht eine Anleihe bei der Lebenspraxis.
Das auf dieser Grundlage gebotene methodische Vorgehen ist die Sequenzanalyse.
Ich kenne kein Verfahren der Genogrammanalyse, dessen Möglichkeiten ähnlich skrupulös ausgestaltet und fundiert sind. Das allerdings hat seinen Preis: Man wirft diesem Verfahren vor, es sei extrem (Familiendynamik Jg. 47, 2022, S. 139). Geht man der Bedeutung der Wörter, die man eben mal so verwendet, auf den Grund, dann bietet das Wörterbuch für das Wort „extrem“ folgende Bedeutung an: „An die äußerste Grenze gehend“, wie das bei jeder ernsthaft betriebenen Tätigkeit der Fall ist. Übersetzt heißt das: Genogrammarbeit ist anstrengend. Bei der Arbeit mit Menschen, die aus einer Not heraus Beistand benötigen (für diese Arbeit ist Genogrammarbeit mitunter sinnvoll), kann man nicht gründlich genug vorgehen. Daher lasse ich mich von diese Kritik nicht beeindrucken.
Auch dafür ein Beispiel: An der forensischen Klinik des Zentrums für Psychiatrie Südwürttemberg in Weissenau bei Ravensburg hat die leitende Ärztin, Dr. Roswita Hietel, die Genogrammarbeit eingeführt. Im Verbund mit anderen Verfahren, z. B. der „Gruppenanalytischen Psychotherapie nach Foulkes“ (Hietel in: Gruppenpsychoth. Gruppendynamik Jg. 57, 2021, S. 250-265) rekonstruieren die in dieser Klinik für Fallarbeit zuständigen Berufsgruppen, mitunter erweitert durch Gäste aus benachbarten Kliniken, Patientengenogramme. Zunächst begleitete ich diese Gruppenarbeit. Wir nahmen uns dabei viel Zeit, ein bis zwei Genogramme wurden am Tag bearbeitet, denn das Erschließen oder Rekonstruieren von Genogrammen erledigt sich nicht im Vorbeigehen. Das Strecken der Zeit hat einen erheblichen Lerneffekt, beispielsweise, wenn wir bei den Fragen nach den offenen und problematischen Möglichkeiten den gegebenen Horizont so weit wie möglich abschreiten. Schließlich übernahm Roswita Hietel die Aufgabe der Leitung. Einzelne Ergebnisse hat sie mit mir diskutiert, und schließlich unternahmen wir auf ihren Vorschlag hin den Versuch, diese Ergebnisse in ein Diagramm umzusetzen, das der Übersichtlichkeit und Veranschaulichung dienen sollte.
Anders als an die Grenze, ins Extrem, zu gehen ist bei dieser Arbeit nicht opportun. Mitunter geht es dabei darum, die Genogrammarbeit zur Unterstützung bei der Antwort auf die Frage einzusetzen, ob es ratsam ist, einen der Insassen, der nach § 63 StGB (Begehen einer Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit oder verminderten Schuldfähigkeit) im Maßregelvollzug einsitzt, in eine offenere Betreuungsform zu verlegen. Bei den Fällen, die wir bisher bearbeitet haben, ging es um Mord oder um Brandstiftung. Das soll allerdings nicht heißen, dass Notlagen unterhalb der Ebene von Mord oder Brandstiftung ein gesteigertes Engagement unerheblich machen.
Anfechtungen, dem süßen Gift der Vereinfachung bei der Genogrammarbeit auf der Ebene der Entwicklung des Konzepts zu widerstehen, verweigere ich mich beharrlich. Man wird das beim nächsten Buch sehen, das ich hier vorstelle, wo der Anspruch noch etwas angezogen wird. Aber zunächst noch zu dem gerade besprochenen Buch aus dem Jahr 2018:
In „Genogrammarbeit für Fortgeschrittene“ kommen noch zwei Beigaben dazu: Die eine besteht in einem Kapitel über Geschwisterbeziehungen. Auf der Grundlage von Fällen (was denn sonst) zeige ich, dass im Rahmen der Genogrammarbeit landläufige Stereotype über Geschwisterbeziehungen (Älteste sind …, Jüngste sind …) auf den Einzelfall bezogen nur dann einen Sinn haben, wenn sie sich bei dessen Rekonstruktion bewähren.
Als herausragend in diesem Buch betrachte ich das Kapitel über Vornamen. Ich scheue mich nicht, zu behaupten, dass es in Bezug auf die vorhandene Literatur innovativ ist. Aber darauf kommt es hier nicht an, für Soziologen, die in diesem Feld dilettieren, ist dieses Kapitel nicht geschrieben. Und wenn, würden sie sich dafür nicht interessieren, denn Zahlen kommen darin nicht vor. Wichtig ist hier, dass mit Blick auf die Ordnung, die anhand eines Genogramms erschlossen werden kann, in der Deutung von Vornamen eine bedeutende Ressource steckt.
Mit dem nächsten Genogrammbuch „Grundlagen der Genogrammarbeit“ (Vandenhoeck & Ruprecht 2021) habe ich dann auf der Ebene des „den Sachen auf den Grund gehen“ in punkto „extrem“ den Vogel abgeschossen. Wie, wird deutlich am Untertitel dieses Buchs: „Die Lebenswelt als Ausgangspunkt sozialpsychiatrischer Praxis“.
„Die Lebenswelt“ verweist auf den Kernpunkt einer bedeutenden philosophischen Denkrichtung, der Phänomenologie, die ich als eine der Systemtheorie ebenbürtige, wenn nicht überlegene Denkweise betrachte – warum, steht hier nicht zur Debatte. Der zweite Teil des Untertitels „Ausgangspunkt sozialpsychiatrischer Praxis“ resultiert aus dem Fall, an dem ich in diesem Buch meine Überlegungen entwickle und der den Vorzug hat, dass ich in diesem Fall auch sozialpsychiatrisch engagiert war, womit die Praxis ins Spiel kommt. Wie bereits in dem hier vorliegenden Buch, geht es dort auch um die Grenzen der Genogrammarbeit. Obendrein kann ich mit diesem Fall eine Katamnese von über 30 Jahren vorlegen, und wer hat schon die Geduld, so lange an einem Fall zu bleiben, zumal wenn er dem Credo frönt, „ein Fall ist kein Fall“?
Mit diesem Buch diskutiere ich auch Fehlhaltungen, die im Cartesianismus, eine auf Descartes zurückgehende philosophische Tradition, begründet sind. Das ergibt sich nicht aus dem Ungefähren, sondern aus der Sache: Soziale Berufe, die nicht dem Mainstream (das ist, wenn es um Pädagogen geht, meist die Psychologie) hinterherlaufen, müssten von selbst darauf kommen, dass sie mit philosophischen Entwürfen, die davon ausgehen, dass das Selbst (das Ich) der Welt gegenüber gestellt und der Geist vom Körper getrennt sei, nicht weit kommen. Weil aber auch der Alltagsverstand ständig mit Cartesianismen operiert, fällt es jenen, die es vermeiden, beruflich den Dingen auf den Grund zu gehen, nicht auf, dass das Gegenstück zum „Der Welt gegenüber stehen“ das „In-der-Welt-sein“ ist. (Ich verwende diesen Begriff Martin Heideggers, wohl wissend, dass die Philosophie ihn nicht davor bewahrt hat, in Sachen Nationalsozialismus Dummheiten zu begehen. Werk und Leben pflege ich voneinander zu trennen). Damit meinen Überlegungen zur Genogrammarbeit das konzeptuelle Fundament verschafft wird, habe ich dieses Buch geschrieben.
Dieses Nachwort abschließend seien folgende persönlichen Bemerkungen erlaubt: Nachdem ich mich entschieden habe, mich beruflich vor allem der Ausbearbeitung des von mir entwickelten Verfahrens der Genogrammarbeit zu widmen, das war knapp 20 Jahre vor meinem Eintritt in den Ruhestand, musste ich mein Verhältnis zur Soziologie überdenken. Während sich die Soziologie vor allem der großen Zahl, anders formuliert: den großen Aggregaten wie zum Beispiel Klassen (aus der Mode gekommen), Schichten, besonderen Problemgruppen wie etwa Armen, Migranten, Frauen, Opfer aller Art etc. verschrieben hat, sieht es bei der Genogrammarbeit völlig anders aus: Genogramme erfassen kleine Zahlen, eine Familie über drei Generationen, das ist eine Gruppe von 13 Menschen, die Seitenverwandten nicht gerechnet. Also kam ich nicht umhin, meine Stellung in der gegenwärtigen Soziologie zu definieren. Daraus entstand das Buch „Klinische Soziologie – ein Ansatz für absurde Helden und Helden des Absurden“. Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften 2019. Der Titel ist selbsterklärend und muss nicht erläutert werden. Leben in der Absurdität ist eine der Möglichkeiten der conditio humana. Wer es genauer wissen will wende sich an den Sisyphos des Albert Camus in der Neuübersetzung.