Vom coronabedingten Einfrieren der Öffentlichkeit und möglichen Konsequenzen für die Identitätsbildung – nebst einer Anmerkung zum Regierungshandeln

Zusammenfassung

Verhalten in der Öffentlichkeit ist auch eine Frage der Bildung und Entwicklung von Identität. Das Einfrieren der Öffentlichkeit (Lockdown) in Zeiten von Corona wird unter diesem Aspekt betrachtet. Beispiele vom Verhalten in der Öffentlichkeit von Gaststätte, Universität und Therapie werden herangezogen, die Praxis regierungsamtlicher Entscheidungen wird kritisch reflektiert.

Schlüsselbegriffe

Identität, Selbstbild, Öffentlichkeit, Corona

1. Öffentlichkeit als gesellschaftswissenschaftliches Thema

Vor der industriellen Revolution und der mit ihr einhergehenden Umwälzung der Lebensumstände „durchzog ein und dasselbe soziale Leben Haus, Hof und Gemeinde“ (Berger und Kellner 1965, 1979, S. 33). Unter solchen Umständen wird man kaum von Öffentlichkeit und ihrem Gegenstück, von Privatheit sprechen können. Diese bildeten sich mit der bürgerlichen Gesellschaft heraus (Habermas 1975). Auf Grundlage dieser Entwicklung konnte die Frage gestellt werden, was sich an Beziehungsformen ändert, wenn jemand seine Wohnung verlässt und auf die Straße tritt. Nicht mehr viel, war die Antwort von Richard Sennett auf diese Frage, bezogen auf das 20. Jahrhundert, und er hat eben diesen Umstand als „Tyrannei der Intimität“ (1983) beklagt. Tempi passati.

Zugespitzt könnte man sagen, dass wir aktuell uns wieder im Bereich der sozialen Interaktionsform befinden, als „ein und dasselbe soziale Leben …“ (Sie wissen schon). Man kann diesen Rückfall im Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit erkennen am Bedeutungsverlust des Wortes „Freund/Freundin“ und dem Verschwinden des Wortes „Bekannte/Bekannter“ aus dem öffentlichen Gebrauch. Mithilfe der „sozialen“ Medien wurde dieser Umstand verschärft, jetzt kann jeder (männlich, weiblich oder u. U. auch divers) sein eigenes kleines privates Leben und die damit verbundenen Nöte öffentlich zur Schau zu stellen.

Vor diesem Hintergrund muss es fast rührend anmuten, wenn jemand die Arbeiten von Erving Goffman über „das Individuum im öffentlichen Austausch“ (Goffman 1971) aus dem Regal zieht und in ihrem Licht die aktuellen gesellschaftlichen Gegebenheiten betrachtet.

Einen Anlass dazu bietet das Herunterfahren des öffentlichen Lebens, das Schließen von Gaststätten im Frühjahr und Herbst des Jahres 2020, um der Verbreitung des Coronavirus Einhalt zu gebieten. Dass das eine wirtschaftliche Komponente hat, ist jedermann einsichtig. Von den möglichen sozialen Folgen wird relativ wenig gesprochen, es sei denn, es geht um die finanzielle Zwangslage, in welcher Wirte und Kaufleute geraten können, wenn es ihnen an Einfallskraft fehlt, mit ihrer Zwangslage fertig zu werden, und um die offen zutage tretenden Nöte der Gesamtbevölkerung. In diesem Zusammenhang von „Gewinnern und Verlierern“ der Krise zu sprechen, als ob das gesellschaftliche Leben mit einem Glücksspiel zu verzeichnen wäre, zeigt, auf welchem bescheidenen reflexiven Niveau dieses Thema abgehandelt wird. Ich will mit diesem Beitrag versuchen, der Thematik etwas größeren Tiefgang zu verleihen.

2. Begriffserklärungen

Der so genannte „Lockdown“ bzw. „Shutdown“ im Zusammenhang mit Corona ist in aller Munde. „Lockdown“ ist falsche Wort: Erstens bedeutet es im Englischen „Ausgangssperre“, zweitens ist das ein nichtssagender Anglizismus, der nicht einmal insoweit aussagefähig ist, dass er für sich stehen kann. Daher wurde der “Lockdown“ in der zweiten Jahreshälfte 2020 im Unterschied zum ersten aus dem Frühjahr desselben Jahres als „milder Lockdown“ oder Teil-Lockdown bezeichnet. Nur übel Meinende, für Paranoia Anfällige können auf die Idee kommen, dass diese unpräzise Begriffsbildung dazu da ist, die Bevölkerung zu täuschen.

Noch unangemessener als „Lockdown“ ist „Shutdown“. Im Englischen ist dieses Wort für Phänomene in Gebrauch, bei denen es um ab- oder einsperren geht. Auch wenn eine Fabrik geschlossen wird, spricht man von einem „Shutdown“.

Im besten Fall kann man sagen, dass die Verwendung dieses Begriffs noch den letzten Rest an Klarheit beseitigt. Ich für meinen Teil nenne das, was zur Zeit als “Lockdown“ oder als „Shutdown“ bezeichnet wird, Einfrieren der Öffentlichkeit.

Mögliche Missverständnisse will ich in dieser aufgeregten Zeit gleich zu Beginn meiner Ausführungen ausräumen: Wer aus diesem Artikel Argumentationspotenzial beziehen und auf seine querdenkerischen Mühlen leiten will, sei ausdrücklich versichert, dass ich im vorliegenden thematischen Zusammenhang ein kompromissloser Längsdenker bin. Ich halte die Maßnahmen der Regierenden in der Bundesrepublik Deutschland (der Fokus Europa sei wegen der aktuellen Vielstimmigkeit ausnahmsweise vernachlässigt) in Sachen Corona bisher für angemessen, sehe aber einen Bedarf an parlamentarischer Kontrolle in Fällen, in denen kein dringender Handlungsbedarf vorliegt.

Worauf ich hinaus will: Erstens gehe ich davon aus, dass Identitätsbildung lebenslang verläuft und dass die Einübung in die Fähigkeit zum flexiblen Übergang zwischen Situationen der Privatheit und der Öffentlichkeit ein Teil der Identitätsbildung ist. Zweitens verfolge ich das Argument, dass das Einfrieren der Öffentlichkeit das Risiko mit sich bringt, dass die Gelegenheiten eingeschränkt werden, bei denen sich das Individuum im öffentlichen Austausch bilden kann.

Einige davon seien ausgeführt:

– Das Schließen von Gaststätten. Stammtisch und Theken sind zwanglose Orte der Einübung in öffentliches Verhalten, und wer sich dort daneben benimmt, dem wird deutlich gemacht, wo – in diesem Kontext – der Hase läuft. Wirte sind dafür bekannt, dass sie ein feines Auge dafür haben, welcher Gast als nächstes entgleisen wird, und sie sind schon deshalb aufmerksam, weil entgleisende Gäste geschäftsschädigend sind. Kurz und gut: Die soziale Kontrolle sich daneben benehmender Gäste nützt nicht nur dem Gast (er kann etwas über sich lernen), sondern in erster Linie dem Wirt (er sorgt dafür, dass es in seinem Geschäft ruhig bleibt und der Konsum nicht unterbrochen wird). Der Klassiker in diesem Zusammenhang ist das Trockenlegen bereits Betrunkener.

Indem sie die Gaststätten schließt oder ihre Öffnungszeiten drastisch einschränkt, hat die Obrigkeit im Übrigen auf die Kontrollfähigkeiten von Wirten leichtfertig verzichtet: Junge Erwachsene, denen der Gang in die Kneipe verwehrt ist, ziehen sich ins Private oder in unstrukturierte öffentliche Räume zurück. Ich halte es für plausibel, die Stuttgarter Krawalle im Juni 2020 zu deuten als Spätfolge, dass den Jugendlichen im Frühjahr der Zugang zu den Clubs verschlossen war und sie daher (zeitverzögert) auf die unstrukturierte, von keinem Wirt gesteuerte Situation im Schlosspark auswichen. Die Polizei war davon völlig überrascht.

3. Eine Auswahl sozialer Orte öffentlichen Austauschs

Früher Abend in einer Bar an der Grenze zu Nordirland unweit von Enniskillen. Ich bin der einzige Gast, setze mich an die Theke und bestelle ein Bier. Als ich das zweite Bier bestellen will, fragt mich der Wirt, ob ich mich nicht an einen Tisch setzen möchte. Ich will jedoch an der Theke stehen bleiben. Beim Bezahlen sagt er: Sie müssen ein Deutscher sein. Ich frage, woran er das erkennen will, er antwortet: Weil Sie Ihr Bier nicht gleich bezahlen. Dann will er wissen, warum man in Deutschland erst am Ende eines Barbesuchs bezahlt und der Wirt das Getränk nicht einzeln bezahlt haben will. Meine Antwort ist, dass dem Wirt diese Praxis als Misstrauen dem Gast gegenüber ausgelegt würde. Ein Strahlen breitet sich auf dem Gesicht des Wirts aus: Genau das ist es! Und er wartet mit einer überraschenden und plausiblen Erläuterung auf: Wenn ich einem Gast ein Bier nach dem anderen einschenke, weiß ich ja nicht, ob er am Ende auch bezahlen kann. Zahlt er jeweils gleich, muss ich dieses Misstrauen nicht haben, und wir können uns den Abend über von Mann zu Mann unterhalten.

Ich bin dem Barmann dankbar für diese kleine Einführung in die Auflösung des Verhältnisses von Herrn und Knecht. Schließlich bittet er mich um einen Eintrag in sein Gästebuch.

Interpretation: dieses Beispiel zeigt, dass die Einübung in den gesellschaftlichen Austausch nicht demonstrativ ausfallen muss. Sie spielt sich eher im Kleinteiligen und ohne Ankündigung ab.

Online-Lehre statt Seminar. In Zeiten des Einfrierens von Öffentlichkeit sind auch die Hochschulen geschlossen. Damit entfallen die zentralen Formate des Studiums, nämlich der Austausch von Argumenten in kleinen Diskussionszirkeln, wo man sich auch einmal verrennen und blamieren durfte, vorausgesetzt, man traf auf einen Dozenten (m/w/d), der mit solchem Verhalten umzugehen wusste.

In den 1970er Jahren erschien von Wolf Wagner im Rotbuch Verlag ein Buch über den „Uni-Bluff“. (1977/2007). Es ging dort um akademische Praktiken, wie man in Seminaren den Eindruck erwecken konnte, man sei in den gerade verhandelten Sachverhalten kompetent. Dieses Buch war so erfolgreich, dass es im Jahr 2007 als eva-Taschenbuch erneut aufgelegt und mehrfach übersetzt wurde, wenn es auch aus heutiger Sicht umstritten ist. Wagner bezog sich nicht nur auf studentisches Bluffen, sondern auch auf das von Akademikern untereinander. Der Bluff besteht dort darin, so zu tun, als habe man die aktuelle Literatur selbstverständlich präsent. Stichprobenartiges Nachfragen würde aufgrund des damit verbundenen drohenden Gesichtsverlusts (dazu später) als unhöflich gelten, ist also tabu.

Mir geht es hier darum, wie speziell im Grundstudium derlei Praktiken begegnet werden kann, die für unsichere Anfänger insofern problematisch sind, als sie sich vielleicht von vermeintlich Überlegenen beeindrucken lassen. Es kommt dann auf Dozenten an, denen es gelingt, den Bluff als solchen zu entlarven, ohne dass der Bluffer das Gesicht verliert. Einstweilen sei festgestellt, dass Onlineseminaren – nach meinem Kenntnisstand – die interaktive Qualität fehlt, die erforderlich ist, um Studierende in angemessene akademische Praktiken der Diskussion strittiger Themen einzuführen. Alleine auf der reflexiven Ebene wird man sie nicht ins Werk setzen können. Wagner lesen kann vielleicht helfen, reicht aber für den Erwerb einer gelebten Praxis nicht aus.

Vereinsversammlungen. Im zweiten, dem „milden“ Einfrieren der Öffentlichkeit im Herbst 2020 waren Versammlungen mit über zehn Teilnehmern nicht erlaubt. Damit sind folgende unerwünschte Folgen verbunden:

Bei einer Begrenzung von Versammlungen auf unter zehn Personen fallen Vereinsversammlungen aus, es sei denn, der fragliche Verein hat weniger als zehn Mitglieder. Vereinsversammlungen, in denen es etwas zu entscheiden gibt, teilen ihre Interaktionsformen mit Parlamenten, vorausgesetzt, der Verein ist nicht autoritär verfasst. Deshalb halte ich sie für eine Schule der Demokratie. In Vereinen mit einer Jugendabteilung können die Jugendlichen lernen, wie man Interessen gemeinsam entwickelt, sie auf den Punkt und in das Plenum einbringt und dort verteidigt, und vor allem: Wie man sich verhält, wenn man unterliegt. Das alles fällt für die Dauer der eingefrorenen Öffentlichkeit weg.

Home Office. Für manche Beschäftigten, besonders für solche ohne Familie, hat sich das Home Office, also das Arbeiten von Zuhause aus, als Segen für ihre Situation als Beschäftigte herausgestellt. Im ersten Einfrieren der Öffentlichkeit hat die Geburtsstunde des Arbeitens von Zuhause aus geschlagen. Inzwischen beginnt man anzuerkennen, dass dies eine fruchtbare Beschäftigungsform sein kann. Das Misstrauen gegenüber den Beschäftigten schwindet unter dem Druck der Notwendigkeit.

Jedoch war nach einer Weile zu hören, dass die von Zuhause aus Arbeitenden des Kontakts mit den Kollegen entbehrten. Arbeit ist eben nicht nur Arbeit, sondern ebenso eine Form der Vergemeinschaftung. Diese Begegnungen im Alltagsleben sind nicht nur „Abfallprodukt sozialen Handelns, etwas Nichtiges und Triviales“ (Goffman 1974, S. 99), eine Ansicht, die der Autor den traditionellen Sozialwissenschaften vorwirft. Um diese als Abfallprodukte sozialen Handelns, die bei Erfindungen wie dem Einfrieren der Öffentlichkeit in Krisenzeiten ignoriert werden, geht es mir im vorliegenden Zusammenhang, auch jenseits der Arbeitswelt.

Ich will diesen Punkt noch etwas ausbauen und erläutere ihn am Beispiel der Therapie.

Therapie. Auf den ersten Blick mag es scheinen, dass im Zusammenhang mit Öffentlichkeit das Thema Therapie keinen Ort hat. Tatsächlich aber handelt es sich bei der Therapie um eine widersprüchliche Einheit von Öffentlichkeit und Privatheit. Öffentlich ist die Therapie deshalb, weil sie eine Veranstaltung des Gesundheitswesens ist und die jeweilige Vorgehensweise öffentlich kontrolliert wird. Die Aufgabe des Patienten besteht darin, alles dafür zu tun, um die vom Versicherungswesen in Anspruch genommenen Mittel optimal einzusetzen, verbunden mit der Pflicht, nach bestem Vermögen zum Gesundungsprozess beizutragen. So hat die alte Medizinsoziologie unter dem Eindruck des Strukturfunktionalismus die Patientenrolle definiert (Parsons 1951). Und schließlich sichert die Schweigepflicht die Privatheit der Veranstaltung.

Auch in der Therapie finden sich kleinteilige Mechanismen der Sozialisation zum Patienten, die bei Parsons aufgrund der paradigmatischen Verengung seines Blicks vernachlässigt werden, da stimme ich Erving Goffman unbedingt zu. Dazu ein Beispiel:

In jedem Therapieraum findet sich gut sichtbar und in Reichweite eine Schachtel Kleenex. Der unerfahrene Patient mag sich fragen, wozu sie gut sein soll. Als Taschentuchersatz? Ein Taschentuch hat er selber dabei. Als Schweißtuch? Ins Schwitzen wird man bei dem bisschen Reden schon nicht kommen, und falls doch, hat man dafür ein eigenes Taschentuch zur Verfügung.

Man stelle sich einen Patienten vor, der aus einem rigiden patriarchalischen Milieu stammt, einen Mafioso, mithin einen Mann, der als Macho sozialisiert und aufgewachsen ist (die Mafiosi unter meinen Lesern mögen diese Unterstellung entschuldigen). Männer weinen nicht. Das ist die Grundregel in diesem Milieu. Nun aber unterläuft es dem Patienten, einem Paten der Mafia aus New Jersey, dass er über die Traumata, von denen er vermutet, dass seine Mutter sie ihm zugefügt hat, ins Weinen kommt. Automatisch reicht die Therapeutin die Kleenex-Schachtel herüber. Aha, realisiert der weinende Mafioso, dafür ist also diese Schachtel gut, es geht nicht um Schnupfen oder Schwitzen, hier ist man darauf vorbereitet, dass Patienten, auch männliche, weinen. Schon wieder etwas gelernt.

Um diesen Lernprozess anzustoßen, braucht es keine mündliche oder schriftliche Einweisung in Patientenverhalten, es reicht das Zeichen der Kleenex-Schachtel.

Dieses Beispiel ist (ausgenommen die Kleenex-Schachtel) erfunden. Möglicherweise nicht erfunden ist, was Natalia Ginzburg über ihre Psychoanalyse schreibt (Ginzburg 1989). Sie berichtet in ihrer Erzählung „Meine Psychoanalyse“, dass diese Behandlung in der Privatwohnung eines Psychoanalytikers in Rom stattfand, der sich als Jungianer bezeichnete. Ginzburg lässt im Dunkeln, was der Anlass für diese Behandlung war, es ist einmal von Schuld und Verirrung die Rede. Mehr muss der Leser auch nicht wissen. Eine Krise tritt ein, als Ginzburg dem Arzt, der in Sachen Abstinenzregel ein Virtuose gewesen sein muss, von der Auffassung einer Freundin berichtete, die Ginzburgs Psychoanalyse in Zweifel zog und die Ansicht vertrat, „die Analyse würde zwar meine Seele heilen, aber jede schöpferische Fähigkeit in mir töten“ (Ginzburg 1989, S. 43). Das ist eine Prognose, die für eine Schriftstellerin ein Menetekel sein muss.

Dieser Bericht empört den sonst so feinen und zurückhaltenden Analytiker. Er holt aus, dass diese Gefahr zwar bei einem Freudianer, nicht aber bei einem Jungianer wie ihm bestünde, worauf Ginzburg sich einen Vortrag über den Unterschied zwischen Freud und Jung anhören muss. Daraufhin verläuft sich diese Behandlung, auch, weil Ginzburg die Stadt verlässt. Am Ende der Erzählung äußert sie den Wunsch, diesem Analytiker im Jenseits wieder zu begegnen.

Gesellschaftliche und individuelle Praktiken der Gesichtswahrung; Techniken der Imagepflege

Verhalten in der Öffentlichkeit ist auch eine Frage der Bildung und Ausgestaltung der eigenen Identität. Das ist hier das Thema. Solche Prozesse finden gewissermaßen „zwischen den Zeilen“ sozialer Interaktion und in der Regel nicht explizit statt. Die aktuelle Coronakrise und das damit verbundene Einfrieren der Öffentlichkeit habe ich in Verbindung gebracht mit dem Einfrieren mannigfaltiger Gelegenheiten, als junge Erwachsene und auch später eine personale Identität zu entwickeln, die zwischen Privatheit und Öffentlichkeit zu unterscheiden weiß und entsprechende Verhaltensweisen, diese Unterschiede zu handhaben, entwickeln kann.

Wäre ich nicht ein Klinischer Soziologe (Hildenbrand 2018, 2021), sondern ein Gesellschaftstheoretiker, würde ich diese Beobachtungen zum Anlass nehmen, den in Kürze eintretenden gesellschaftlichen Katastrophenfall auszurufen, um daraus aufmerksamkeitsheischendes Kapital zu schlagen. Jedoch vermute ich, und damit schließe ich dieses Kapitel ab, dass die Coronakrise von vorübergehender Dauer sein wird. Nach der Einführung eines Impfstoffs wird die Gesellschaft zügig wieder zur routinemäßig erfahrbaren Normalität des Alltagslebens, wie Garfinkel (1967) in Anlehnung an Alfred Schütz das beschrieben hat, zurückkehren. Die Querdenker werden sich andere Angriffsziele suchen. Die Härte, die während der Coronazeit zu erleben war, wird rasch vergessen werden, und die gewonnenen Erfahrungen werden sich in Rauch auflösen. Nur, wenn das Einfrieren der Öffentlichkeit zum Dauerzustand würde, wie man das aus totalitären Staaten, Nordkorea beispielsweise, zu kennen meint, wäre allen Ernstes vom Katastrophenfall die Rede. Bezogen auf meinen Argumentationsgang muss ich daher einräumen: Außer Spesen nichts gewesen. Aber schön, dass Sie sich mit mir die Zeit nahmen, über die vorgetragenen Argumente nachzudenken.

Am Beginn dieses Beitrags habe ich die Frage aufgeworfen, welche Vorkehrungen Gesellschaften getroffen haben, um mit Situationen des mangelnden Passungsverhältnisses von gesellschaftlichen Erwartungen und individuellen Orientierungsleistungen fertig zu werden. In diesem Zusammenhang habe ich auf Erving Goffman verwiesen. Seinen Überlegungen zu solchen Situationen werde ich mich jetzt widmen, genauer gesagt seinen Ausführungen über „Gesichtswahrung“ sowie „Techniken der Imagepflege“. Unter Image versteht Goffman ein Selbstbild, welches durch sozial anerkannte Eigenschaften beschrieben ist. Jedermann ist daran interessiert, dieses Selbstbild aufrecht zu erhalten. Es gibt Regeln, „wie viel Gefühl jemand für das Image allein aufbringen und wie dieses Gefühl sich auf die Beteiligten verteilen muss“ (Goffman 1971, S. 11). Das Selbstbild ist auf die Anerkennung und Bestätigung der Interaktanden verwiesen. Zu seinem Erhalt gibt es sozial gebilligte Strategien.

Ein stimmiges Selbstbild führt zu Gefühlen von Vertrauen und Sicherheit. Ein falsches oder gar kein Selbstbild zu haben kann bis zur Handlungsunfähigkeit führen. In solchen Situationen kommen Praktiken der Gesichtswahrung zur Geltung. Dazu gehört, dass ein verunsichertes Individuum Selbstachtung und Gelassenheit zeigt und die anderen nicht in Verlegenheit bringt. Von den anderen wird in solchen Situationen Rücksichtnahme erwartet. „Normalerweise ist die Aufrechterhaltung des Images eine Bedingung für Interaktion, nicht ihr Ziel“ (Goffman 1971 S. 17). Nur in Gesellschaften, in denen das Ich ein goldenes Kalb ist, um welches man unablässig tanzt, gilt das Umgekehrte.

Für die Achtung des Individuums gibt es Regeln, Goffman nennt sie „Techniken der Imagepflege“. Das sind Handlungen, „die vorgenommen werden, um all das, was man tut, in Übereinstimmung mit seinem Image zu bringen“ (Goffman 1971, S. 18).

Zwischenfälle, die das Image in Gefahr bringen, müssen bewältigt werden. Vom Individuum aus gesehen, besteht eine Technik des Aufrechterhaltens seines Images darin, Gelassenheit zu demonstrieren. Von der Gruppe ausgesehen, wird erwartet, dass die Teilnehmer über „Takt und Diplomatie“ verfügen (Goffman 1971, S.19). Jedoch müssen sie auch in der Lage sein, drohenden Gesichtsverlust wahrzunehmen. Des Weiteren unterscheidet Goffman zwischen defensiven Praktiken der Imagepflege, die dem Individuum dazu dienen, das eigene Image zu wahren, und protektiven Praktiken, die der Wahrung des Image der Anderen dienen. Insgesamt zählt Goffman folgende Arten von Techniken der Imagepflege auf: erstens der Vermeidungsprozess, indem man einer möglichen Bedrohung des Image aus dem Weg geht; zweitens die Fiktion, es habe keine Bedrohung stattgefunden; drittens die Korrektur.

Ich spiele das an dem oben gegebenen Beispiel aus der Therapie durch: Der ansonsten knallhart sich gebende Mafioso beginnt zu weinen. Die Therapeutin muss unwillkürlich lachen, denn das hat sie nun wirklich nicht erwartet. Verlegen hält sie sich die Hand vor den Mund. Es ist passiert, die Therapie steht auf der Kippe. Sie kann froh sein, wenn der Patient nicht seine Waffe zieht. Was also tun? Das Image der Therapeutin und das des Patienten stehen gleichermaßen auf dem Spiel: das der Therapeutin als kompetenter Fachfrau, das des Mafioso, der sich gerne als „harter Hund“ gibt.

Die Therapeutin kann so tun, als sei nichts passiert. Sie fährt einfach mit ihrer Arbeit fort. Dieses Vorgehen ist riskant, denn die Therapeutin kann ja nicht wissen, was ihr Patient als nächstes gegen sie im Schilde führen wird. Ebenso kann der Patient den Vorfall ignorieren. Es wird jedoch immer schwer fallen, eine Verachtung seiner Person auf sich beruhen zu lassen. Wie aber kann das Drama korrigiert werden? Die Therapeutin kann Betroffenheit an den Tag legen, sich entschuldigen, vor dem Patienten vielleicht sogar auf die Knie fallen (warum nicht? Operette kommt in diesem Milieu immer gut) und darauf hinweisen, dass ihr neulich in einem ganz anderen Zusammenhang, im Gespräch mit dem Leiter des Instituts, so etwas schon einmal passiert sei. Der Patient kann die Aufführung als Entschuldigung registrieren und darum bitten, in der Behandlung fortzufahren.

Auf jeden Fall ist dieser Vorfall nicht belanglos. Goffman betont: „Das Image eines Menschen ist etwas Heiliges und die zu seiner Erhaltung erforderliche expressive Ordnung deswegen etwas Rituelles“ (Goffman 1971, S. 25). Ich nehme an, er wird das auch für die Mafia gelten lassen.

Ob heute noch gilt, dass das Image eines Menschen etwas Heiliges ist, sei in einer Zeit, in der jeder Schnösel (m/w/d) meint, im Internet andere anonym beleidigen zu können, dahingestellt. Solange derlei jedoch öffentlich missbilligt und sogar strafbewehrt wird, besteht noch Hoffnung auf ein zivilisiertes Miteinander.

Fazit: Ich nehme Goffmans These ernst und bin daher der Auffassung, dass, wenn Gelegenheiten eingefroren werden, am Image zu arbeiten, das keine Kleinigkeit ist, die vernachlässigt werden kann.

Ich komme zurück auf Goffmans oben vorgestellte Einsicht, dass Begegnungen im Alltagsleben nicht nur „Abfallprodukt sozialen Handelns, etwas Nichtiges und Triviales“ (Goffman 1974, S. 99) sind, eine Ansicht, die der Autor den traditionellen Sozialwissenschaften vorwirft. Um diese als Abfallprodukte sozialen Handelns, die bei Erfindungen wie dem Einfrieren der Öffentlichkeit in Krisenzeiten ignoriert werden, ging es mir im vorliegenden Zusammenhang, auch jenseits der Arbeitswelt. Am Beispiel der Coronamaßnahmen kann man zeigen, dass in Krisensituationen Regierende dazu neigen, zu handeln wie Strukturfunktionalisten und das Feingewebliche des Sozialen ignorieren. Selbstverständlich müssen sie die Komplexität dessen, was ihnen begegnet, reduzieren. Aber muss das immer das Feingewebliche in der Interaktion sein?

Ein letzter Gedanke: der Süddeutschen Zeitung vom 18.11.2020 ist zu entnehmen, dass asiatische Länder wie Vietnam und Japan deshalb im Vergleich sehr gut durch die coronabedingte Krise kommen, weil dort der Individualismus nicht sehr hoch bewertet und dafür die Gemeinwohlorientierung umso höher geachtet wird, was den Regierenden eine größere Akzeptanz in Sachen Einschränkung öffentlichen Lebens verschafft. Vielleicht könnte man diese Erkenntnis den Querdenkern und Impfverweigerern ins Stammbuch schreiben.

 

Literatur

Berger, Peter L., Kellner, Hansfried (1965/1979): Marriage and the Construction of Reality. In: Berger, Peter L., Facing Up To Modernity. Harmondsworth: Penguin Books. Ich zitiere nach der deutschen Fassung: Die Ehe und die Konstruktion der Wirklichkeit. Soziale Welt 16 (1965), S. 220-235.

Garfinkel, Harold (1967): Studies in Ethnomethodology. Cambridge: Polity Press.

Ginzburg, Natalia (1995): Nie sollst du mich befragen. Erzählungen. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, S.39-46.

Goffman, Erving (1967/1971): Interaction Ritual. Essays On Face-To-Face Behavior. New York: Pantheon Books. Dt.: Goffman, Erving (1971): Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Goffman, Erving (1974): Das Individuum im öffentlichen Austausch. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Habermas, Jürgen (1975): Kulturwandel der Öffentlichkeit. Neuwied und Berlin: Luchterhand. 7. Aufl.

Hildenbrand, Bruno (2018): Klinische Soziologie – ein Ansatz für absurde Helden und für Helden des Absurden. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Hildenbrand, Bruno (2021): Grundlagen der Genogrammarbeit – die Lebenswelt als Ausgangspunkt sozialpsychiatrischer Praxis. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht.

Laplanche, Jean, Pontalis, Jean-Bertrand (1994): Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 12. Aufl.

Möhringer, J. R. (2008) Tender Bar. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag (3. Aufl.)

Parsons, Talcott (1951): Social Structure and Dynamic Process: The Case of Modern Medical Practice. Glencoe: Free Press, S. 428-479.

Sennett, Richard (1983): Verfall und Ende des öffentlichen Lebens – Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt am Main: S. Fischer.

Wagner, Wolf (1977): Wie studieren und sich nicht verlieren? Berlin: Rotbuch Verlag. Neufassung: Ohne Angst studieren und Uni-bluff heute. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 2007.