Grußwort an das therapeutische Dorf Melchiorsgrund zum 44. Geburtstag

Liebe Leute, die Ihr hier zusammengekommen seid,

Wer auf die Idee gekommen ist, diesen Ort ein Dorf zu nennen, war genial. Mit der Sozialform Dorf ist ein Lebenszusammenhang beschrieben, der offen ist für Entwicklungen und nicht in Rastern oder Schubladen festklemmt. Mehr will ich dazu nicht sagen, sondern dem Anlass gemäß einen Blick in die Geschichte werfen:

Horst Eberhard Richter, zeitweise ein populärer Giessener Psychoanalytiker, teilte anlässlich einer Tagung in Freiburg mit, eines Sonntagmorgens habe ihn der damalige Bundeskanzler Willy Brandt angerufen und ihm das Anliegen vorgetragen, man müsse etwas für die Psychiatrie tun. Tatsächlich legte der Deutsche Bundestag 1973 einen Bericht über die Lage der Psychiatrie vor. Dadurch wurde die desolate Situation der Anstaltspsychiatrie landesweit bekannt. Eine Aufbruchstimmung durchzog fortan das Land, und überall im Umfeld von Universitäten schossen psychiatrische Einrichtungen mit experimentellem Charakter, getragen von begeisterten Einzelpersonen oder Gruppen, aus dem Boden. Schaut man heute darauf zurück, stellt man fest, dass mit wenigen Ausnahmen, zu denen auch der Melchiorsgrund gehört, diese Einrichtungen wieder untergegangen sind. Sie sind den Weg mancher Begeisterung gegangen: Mit dem Verschwinden der kreativen Erneuerer trat die Veralltäglichung auf, und der Lack am Neuen war ab. Spätestens, als die Gesundheitsbürokratie sich der Sache angenommen hat, hat sie den ehemals innovativen psychiatrischen Organisationen ihren Stempel aufgedrückt. Reinhard Kaul-Seeger hat dafür einen zutreffenden Begriff geprägt. Ob dieser allerdings an diesem Tag die Stimmung verderben soll, möchte ich ihm überlassen. Sein Begriff lautet „beliebige Irrenkonzerne“, und er mag ihn zur Sprache bringen, wenn ihm danach ist.

Jedenfalls gab es bereits zur Zeit der Psychiatrie-Enquête des Bundestags eine Reihe von Alternativen. Richtete man seinen Blick damals über die Landesgrenzen hinaus, konnte man bewährte und aussichtsreiche Ansätze finden. In Vermont in den USA, auf der Spring Lake Ranch, hatten Reinhard Kaul-Seeger, meine Frau und ich Gelegenheit, eine solche Einrichtung zu besuchen. Die Geschichte, wie es dazu kam, gehört elementar zur Institutionengeschichte des Melchiorsgrund. Vielleicht gibt es an diesem Tag Gelegenheit, zwanglos davon jenen, die ein Interesse dafür haben, zu erzählen.

Spätestens, als die Bundesregierung im Jahr 1988 eine zweistellige Zahl psychiatrischer Lehrstühle beauftragte, Schlüsse aus der Entwicklung seit 1973 zu ziehen, ist die Reform vollends in sich zusammengebrochen. Hier im Melchiorsgrund bedurfte es keiner Lehrstühle, sondern es genügten andauernde erfahrungsgesättigte Leistungen, um ein stabiles Werk zu schaffen. Hilfe kam von außen, darunter vom Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke und insbesondere von Peter Matthiesen, möge er in Frieden ruhen, die halfen, dieses Dorf aufzubauen. Es hat in allen Fragen der Psychiatriereform Vorbildliches geleistet.

Soviel zum Thema Jubiläum.

Jetzt wende ich mich an diejenigen, für die dieses therapeutische Dorf gegründet wurde, also an die Patienten, die hier so nicht heißen:

Lasst Euch Eure Geschichten nicht von anderen schreiben oder erzählen. Nehmt das Heft selbst in die Hand. Setzt Euch zusammen und schreibt Eure Geschichte und damit die Geschichte des Melchiorsgrund. Vergesst dabei nicht die, die im Zorn von hier gegangen sind.

Auch die Krisen, das lasst mich als Anregung anfügen, spielen dabei eine wichtige Rolle. Nicht deshalb, weil in ihnen eine Chance steckt. Diese Erkenntnis plappert heute jeder Möchtegernphilosoph nach. Nein: In der Krise sind wir zugleich nichts und alles, wie der Heidelberger Arzt und Philosoph Viktor von Weizsäcker sagte. Es geht also um die Frage, wie man vom Nichts zu Allem kommt.

Mit diesem Appell möchte ich schließen. Lasst es Euch gut gehen, und tragt Euren Teil dazu bei.

Seid herzlich gegrüßt von Bruno Hildenbrand.