Einleitung
Mein Auftrag für diesen Text (vgl. Buch Diana Drexler) besteht darin, darzulegen, was ein Familienaufsteller (weiblich oder sonst was) über Familien wissen sollte. In einer breiteren Perspektive könnte man auch fragen, was eine Person über Familien wissen sollte, sofern sie auf der Grundlage eines Auftrags zu Beratung oder Therapie in einer Notlage tätig wird.
So eine blöde Frage, werden Sie jetzt denken. Was eine Familie ist, weiß doch jeder. Und wenn er das nicht weiß, kommt er vom Mond.
Ähnlich könnte man die Auffassung vertreten, dass die Wissensbasis fachlichen Handelns sich auf Alltagswissen beschränken kann.
Aber damit nicht genug: Bevor man sich mit einer Familie auseinandersetzt, reicht es erst einmal, herauszufinden, wie die Familie erscheint. Wir haben das andernorts Fallverstehen genannt (Hildenbrand 2023). Im Alltag präsentieren sich Familien als Gruppen zu drei und mehr (Eltern und Kinder, in der Minimalzahl ist das die Triade, zählt man auch die Großeltern dazu, erweitert die Betrachtungsperspektive also zum Dreigenerationenansatz, dann ist das eine Heptade (Funcke und Hildenbrand 2018, 9.6).
Aber nehmen wir einmal an, werte Leserin, werter Leser, Sie halten es für bedenkenswert, was wissenschaftliche Ansätze zur Familie zu bieten haben. Diese Ansätze reduzieren sich nicht auf die Verlautbarungen der Psychologie oder Soziologie zur Familie, sondern beziehen wichtige Erkenntnisse der Kulturanthropologie und der Sozialgeschichte ein, erstrecken sich auf Aussagen über „die Familie der Gegenwart“ oder „die Familie der Zukunft“.
Jedoch: Die Unterstellung einer linearen Entwicklung der Familie, die vor 3,6 Millionen Jahren in Laetoli, einem Tal in Tansania, beginnt und in Berlin-Mitte oder München-Schwabing endet, wird dem menschlichen Leben nicht gerecht.
Im Folgenden werde ich eine europäische Perspektive einnehmen und weiß dabei wohl, dass die Wanderungs- und Fluchtbewegungen in dieser Welt es immer problematischer werden lassen, ein eurozentrisches Weltbild zu unterlegen, wenn auch das europäische Familienkonzept European Marriage Pattern, das sich in der europäischen Geschichte der Neuzeit herausgebildet hat (für Details vgl. Funcke & Hildenbrand 2018, Kap. 4.3) aufgrund von Auswanderungsbewegungen aus Europa weltweit geläufig ist und orientierungsleitend bis in die Gegenwart wurde.
Doch Vorsicht: Wie gehen Sie zum Beispiel mit dem Sachverhalt um, dass man in Westafrika über lange Zeit der Auffassung war, dass die leiblichen Eltern die Letzten sind, die ihr Kind gut erziehen können, weshalb sie es vorziehen, ihr Kind ab dem dritten Lebensjahr an möglichst weit entfernte Menschen abzugeben? Als weltweit orientierungsleitendes Konzept ist diese Praxis nicht angemessen, denn die Begründung, die dafür vorgebracht wurde, war die Folgende: Aufgrund des in dieser Gegend herrschenden Unfriedens zwischen den Stämmen und der allgegenwärtigen Gewaltbereitschaft war die Abgabe eines Kindes an Fremde eine gute Vorkehrung, um mit diesen Fremden keinen Streit anzufangen, denn es könnte ja sein, dass man im Krieg das eigene Kind tötet. Erst als die Kolonialmächte in der Befriedung des Landes vorangeschritten waren, ging diese Praxis messbar zurück (Alber 2005).
Man ist, darauf will ich mit diesem Beispiel hinweisen, nicht gut beraten, wenn man die eigenen alltagsweltlichen Vorstellungen von Familie in der interkulturellen Arbeit auf die Klienten überträgt, auch nicht, wenn die Klienten Landsleute sind.
Weiter kommt man, wenn man die Antwort auf solche Fragen in der forschenden Begegnung mit den Klienten als Einzelfall sucht. Aus den Wissenschaften zusammen getragene Erkenntnisse helfen kein Jota weiter, wenn sie etwa der Art sind: „Älteste sind…“ (Geschwisterkonstellation), „Muslime sind…“ (gelebte Religion). Mitunter gelten solche Erkenntnisse als Vorteile, die im Alltag, falls genau geprüft, für die Handlungsorientierung nützlich sein können. Das heißt jedoch nicht, dass die Ergebnisse wissenschaftlicher Bemühungen nichts wert sind, wenn man etwas über Familien erfahren will. Vorausgesetzt ist, dass diese Wissenschaften ihrem Gegenstand gerecht werden, einschließlich, dass sie die diesem Gegenstand angemessenen Methoden einsetzen, welche dann in der Gesamtgestalt eines Einzelfalls verortet werden (Hildenbrand 2005).
Solche wissenschaftlichen Erkenntnisse stellen aus meiner Sicht einen Orientierungsrahmen dar, aus dem man Vermutungen ableiten kann, wie es im gegebenen Fall sein könnte. Wie es dann tatsächlich ist, wird sich im fallverstehenden Begegnen zeigen (Hildenbrand 2023).
Nach dieser Vorrede will ich Ihnen nun einen auf die Familie bezogenen wissenschaftlichen Orientierungsrahmen vorstellen, der sich in meinem Berufsleben bewährt hat. Es handelt sich um die folgenden Themen:
- die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: eine Absage an ein lineares Zeitkonzept;
- die Familie als System sozialisatorischer Interaktion mit den Unterpunkten: Triade, Geschwisterbeziehungen, Beziehungen zu den Großeltern;
- Familienparadigma: familienspezifische Weisen der Weltwahrnehmung;
- Interaktionsprozesse an den Familiengrenzen;
- Familienmuster und die Frage nach Wiederholungen;
- die Milieurelativität von Familien und die Vielfalt der Wege in die Zukunft.
Wenn Ihnen danach ist, können Sie diese Themen als eine Art Merkposten für die Arbeit mit Familien behandeln.
Nehme ich mich selbst als Einzelfall in den Blick, dann erscheint mir der folgende Zeitabschnitt: Als 1948 Geborener und aufgewachsen in einer Familie mit komplexen Konstellationen hatte ich reichlich Gelegenheit, Varianten der Vereinbarkeit von Arbeit und Leben, neudeutsch als Work-Life-Balance, kennen zu lernen. Die Abfolge dieser Familienberichte zeigt, dass die Familienministerien von einem zentralen Thema beherrscht waren: vom Thema der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Man hatte die Unvereinbarkeit erkannt und als politisches Ziel ausgegeben, eine solche Vereinbarkeit herzustellen. Wie sah das in meiner Generation aus? Meine Großmutter mütterlicherseits hat, obwohl sie zwei Brüder hatte, einen kleinen Bergbauernhof geerbt. Klein heißt in diesem Fall, dass er 3,51 ha umfasste. Betriebe, von denen man zur damaligen Zeit erwarten konnte, dass sie eine Familie zu ernähren in der Lage sind, zählten 20 ha. Meine Großmutter heiratete einen weichenden Erben, er stammte also von einem in der dortigen Gegend, im mittleren Schwarzwald, Vollerwerbsbetrieb, war aber nicht erbberechtigt. Als weichender Erbe war er zum Vollerwerbslandwirt sozialisiert, verfügt aber nicht über die ausreichende Grundlage, um eine Familie ernähren zu können. Er schöpfte zunächst aus, was aus dem ererbten Hof seiner Frau zu holen war, und das war auf der Grundlage des auf dem Hof liegenden Brennrechts nicht wenig, im Winter arbeitete er als Waldarbeiter, an seine Kollegen verkaufte er Bier, woraus schließlich eine Gastwirtschaft entstand. Diese Gastwirtschaft wurde zur Domäne meiner Großmutter, mit deren Namen ihre Tätigkeit dort auch verbunden wurde. Daneben fand sie auch noch Zeit, zehn Kinder zur Welt zu bringen und bis zum Erwachsenenalter zu führen. Und wäre nicht der Krieg gewesen, wäre aus allen „etwas geworden“, wie man damals so sagte. Fragt man sich, wo meine Großmutter als Mutter von zehn Kindern und als Wirtin Arbeit und Leben in Einklang bringen konnte, dann ist die Antwort einfach: Allabendlich genoss sie ein Viertel Waldulmer Spätburgunder. Personal gab es mit Ausnahme eines während der Kriegswirren auf dem Hof hängen geblieben Bayern keines.
Meine Großmutter väterlicherseits stammt ebenfalls von einem Bergbauernhof, weil sie aber keine Aussicht hatte, angemessen verheiratet zu werden (so waren damals die Regeln), stieg sie, kaum erwachsen, hinunter ins Tal und wurde dort Packerin in einer Papierfabrik. Sie brachte zwei Söhne von zwei unterschiedlichen Vätern zur Welt und gebar1916 und 1918 je einen Sohn, die sie beide alleine erzog. Dadurch löste sie sich nachhaltig von ihrer Familie ab. Sie hatte noch einen Bruder, der ebenfalls in der Papierfabrik arbeitete und zu dem eine gute Beziehung bestand. Man muss sich die Tatsache zweier unehelicher Geburten einmal in einer streng katholischen und zur Scheinheiligkeit neigenden Gegend vorstellen. In dieser Lage eine Existenz am Rand der Gesellschaft zu führen oder sonst wie abzugleiten, war für meine Großmutter keine Option. Sie war ein zuverlässiges Kirchenmitglied und verschonte ihre Söhne vor einer Mitgliedschaft bei der Hitlerjugend. Sie soll das bewerkstelligt haben, indem sie behauptete, für die geforderten Uniformen habe sie kein Geld. Mein Vater, der Jüngste der beiden, trat dem katholischen Gesellenverein bei und wurde Langstreckenradfahrer (Randonneur). Ihren Söhnen beschaffte sie Lehrstellen in der Fabrik, in der sie tätig war. Sie wurden Papiermacher. Mein Vater lernte meine Mutter kennen, die bei uns in der Stadt bei einem Papierwarenhändler eine Stelle als Haushälterin angetreten hatte. Im Krieg verlor er einen Arm und schulte um zum kaufmännischen Angestellten.
Mein Großvater mütterlicherseits, der Wirt, der als solcher nicht amtierte, die Gaststätte war der Herrschaftsbereich meiner Großmutter, war tätig als Landwirt und Waldarbeiter, je nach Jahreszeit, und starb früh an Krebs. Im Spätstadium dieser Erkrankung sah er meiner Erinnerung nach aus wie Hermann Hesse. Von meinem Großvater väterlicherseits weiß ich nichts. Die Eskapaden, die sich meine Großmutter als junge Frau geleistet hatte, wurden in meiner Familie gründlich verschwiegen, im Unterschied zur Familie ihres ältesten Sohnes, in dessen Haus meine Großmutter im Alter wohnte, wenn sie ihn auch als Kind an einen Bauernhof als Verdingkind abgegeben hatte, was dieser sich aber nicht gefallen ließ; denn er drängte nachhaltig zur Mutter zurück, was ihm gestattet wurde. Im Alter führte sie das Leben, das bei Bertolt Brecht in der Erzählung „Die unwürdige Greisin“ beschrieben wird. Sie reiste mit einem lokalen Busunternehmen. Besonders eindrücklich ist ein Foto, das meine Großmutter zeigt, wie sie den brennenden Motor eines Reisebusses an einem Alpenpass bestaunt.
Ich bin also in meiner Familiengeschichte mit zwei berufstätigen Müttern konfrontiert, deren Balancierung von Arbeit und Leben, was die Genussseite anbelangt, aus einem Viertel Wein am Abend und Ferienreisen im Ruhestand besteht.
Was nun meine eigene Mutter betrifft, so galt in dieser Generation, dass der berufstätige Ehemann „es nicht nötig hat“, dass seine Frau arbeiten geht. In dieser Hinsicht haben meine Eltern ihre eigene Kompromissbildung gefunden. Der Bruder meiner Mutter hatte eine Kochlehre in einem angesehenen Haus in Freiburg absolviert und war Wirt eines stattlichen Landgasthofs. Dass sie bei ihm als Bedienerin arbeitete, überschritt die Grenze zur Werktätigkeit nicht, man konnte sagen, „sie arbeitet bei ihrem Bruder“, übt also eine familiennahe Tätigkeit aus. Für mich hatte das den Vorteil, dass ich bei meinen Vettern und bei meiner Base den Nachmittag verbringen konnte, meine Mutter wusste ihren Sohn versorgt.
In auf- und absteigender Linie konnte ich also eine Fülle von Varianten, davon unzeitgemäße, kennen lernen. Was meinen Vater betrifft, hatte ich ihn an den Tagen, an denen meine Mutter in der Gastwirtschaft meiner Großmutter antreten musste; denn die Präsenz aller Kinder samt Anhang besonders an Festtagen war Pflicht, der sich mein Vater durch ausgedehnte Wanderungen im mittleren und nördlichen Schwarzwald entzog, bei denen ich ihn begleiten durfte. Als Einarmiger war er auf einem an Feiertagen gut besuchten Berggasthof auch keine große Hilfe.
Die bisherigen Ausführungen führen zwangsläufig zu der folgenden These:
Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, eine Absage an ein lineares Zeitkonzept.
Beispiel 1: Wenn Sie in Marburg leben und sich mitunter einen Aufenthalt außerhalb der hier gängigen Blasen gönnen, könnte es geschehen, dass Sie auf folgende Regel stoßen: „Beigefreite dürfen alles essen, aber nicht alles wissen.“ Wahlweise: „Beigefreite dürfen alles essen, auch schwarze Wurst, aber nicht alles wissen.“ In manchen Dörfern im Umfeld von Marburg gibt es Vereine, die um das Thema „Beigefreite“ herum organisiert sind. Einer dieser Vereine widmet sich dem Anliegen, den Beigefreiten das in diesem Dorf gesprochene Platt nahe zu bringen. Ein anderer Verein bietet den Beigefreiten eine Gelegenheit, sich im Ort heimisch zu machen.
Im Großen Duden, Wörterbuch der deutschen Sprache, kommt das Wort „Beigefreite“ nicht vor. Nach meiner Vorstellung hat dieser Begriff einen Bezug zu den „Eingeheirateten“ und geht zurück auf die Zeit, als Ehen noch zustande kamen auf der Grundlage von Verträgen zwischen zwei Altfamilien. Damit bewegt man sich im 19. Jahrhundert. Man sieht also, dass das Vergangene weit in die Gegenwart hinein reicht (vgl. auch Hildenbrand u.a. Kap. 4 3. Abs.; S131ff, 1992).
Beispiel 2: In der Blüte der Industrialisierung, um 1850, als große Massen stellungsloser Landarbeiter in das Ruhrgebiet zogen, wo es Arbeit gab, konnten sich viele als Unterkunft nur das stundenweise Mieten eines Bettes leisten. Man nannte sie „Schlafgänger“ (Moser 1984). Diese Praxis kam im 19. Jahrhundert auf und hatte bis in das 20. Jahrhundert Bestand. Beispiel: Auf einer Tagung in Herne in den 1970er Jahren berichtete ein Historiker davon und ergänzte, dass das Schlafgängertum dem Bürgertum Anlass gab, eine dieser Praxis unterstellte fragwürdige Sittlichkeit anzuprangern. Da entstand Unruhe im Auditorium. Einige ältere Damen standen auf und empörten sich in landesüblicher Lautstärke. Dem Tagungsleiter gelang es nicht, darauf hinzuweisen, dass der Referent über die Vergangenheit gesprochen habe. Diese Vergangenheit, wenn auch längst verschwunden, befand sich für sie in der Gegenwart, und die überwunden geglaubte Kränkung griff Raum und war reflexiv nicht mehr einzufangen.
Die Familie als System sozialisatorischer Interaktion mit den Unterpunkten: Triade, Geschwisterbeziehungen
Gehen wir der Sache auf den Grund: Menschheitsgeschichtlich betrachtet, ist die Triade, bestehend aus Vater, Mutter und Kind, die Grundlage der Familie als einer sozialisatorischen Einheit. Voraussetzung für ihr Entstehen ist das Inzest-Tabu (Claude Lévi-Strauss 1981, Kap. XXIX). Soziologisch betrachtet, hat Georg Simmel (1908/1983, Kap. II) die herausragende Bedeutung der Zahl 3, also der Triade, für Interaktionsverhältnisse herausgestellt. Dass dies keine theoretischen Hirngespinste sind, haben E. Fivaz-Depeursinge und A. Corboz-Warnery nachgewiesen (2001). Dorett Funcke und ich (2009) haben die Probe aufs Exempel gemacht und die Triade aus ihrer Abwesenheit heraus untersucht. Wir haben Familienverhältnisse in Augenschein genommen, in denen in der Triade einer oder zwei fehlen. Diese Familienverhältnisse haben wir „unkonventionelle Familien“ genannt. Man kommt so zu Familien Alleinerziehender, Stieffamilien, Adoptivfamilien, Pflegefamilien, schließlich zu kinderlosen Paaren sowie gleichgeschlechtlichen Paaren, die ihren Kinderwunsch durch eine Samenspende realisieren konnten. Im vergleichenden Herangehen kamen wir zu dem folgenden Befund:
„Ein Kind kann in konventionellen wie in unkonventionellen Familienformen glücklich oder unglücklich aufwachsen. Jedoch stellen unkonventionelle Familienformen besondere Herausforderungen an die Beteiligten“ (Funcke und Hildenbrand 2009, S. 10).
Ulrich Oevermann (2000) hat schließlich die Triade erweitert auf drei Generationen, auf die Heptade, unter Einschluss der Großeltern väterlicherseits wie auch mütterlicherseits. Das ist der Personenbestand, der für die Rekonstruktion eines Verwandtschaftssystems unerlässlich ist. Werden dabei auch die Seitenverwandten berücksichtigt, hat man vor sich ein vollständiges Verwandtschaftssystem, ausreichend für eine angemessene Übersicht über eine Familie und eine gute Grundlage für Genogrammarbeit in meinem Stil (Hildenbrand 2018).
Geschwisterbeziehungen
Das Alltagsdenken wartet bei diesem Thema mit folgenden Stereotypen (Vorurteilen) auf: Älteste sind mit elterlichen Erwartungen konfrontiert, gegenüber ihren jüngeren Geschwistern Verantwortung zu zeigen, und übertragen diese Haltung in ihr Erwachsenenleben. Bei den Jüngsten haben die Eltern dann bereits so viel Erfahrung beim Aufwachsen ihrer Kinder gesammelt, dass sie angstfreier geworden sind und dem jüngsten Kind mehr Freiräume einräumen können, was dieses dann zur Kreativität disponiert. Dass diese alltagsweltliche Vorstellung nicht unplausibel ist, hat in akribischer Forschung Frank J. Sulloway (1996) nachgewiesen. Kinder in der mittleren Position laufen Gefahr, zwischen den anderen Geschwistern unterzugehen, und müssen ständig um ihre Position kämpfen, bewerkstelligt beispielsweise dadurch, dass sie den lautstarken Auftritt bevorzugen.
Soweit der Alltagsverstand, den zu diskreditieren mir fern liegt (siehe oben). Zielführend allerdings ist nach meiner Auffassung im berufsfachlichen Handeln zuvörderst die exakte Beobachtung des jeweils infrage kommenden Familiensystems im Einzelfall. Hier mit Algorithmen zu arbeiten, führt nirgendwohin. Denn Algorithmen sind sich wiederholende Schemata und auf das Allgemeine gerichtet. Klientenfamilien allerdings sind ein Einzelfall. Die schlichte Regel „Hast du eine Familie gesehen, hast du alle gesehen“ gilt hier nicht, wenn es auch möglich ist, aus Einzelfällen allgemeine Strukturmerkmale zu isolieren, die dann allerdings getestet werden müssen. Solcherart ins Detail geht der Alltagsverstand nicht, es sei denn, es liegt eine Krise im Handlungsablauf vor. Kurzum: Die Orientierung an Algorithmen führt zu einer papierenen Erfahrung, weitab von dem, was sich in der lebendigen Begegnung zeigt.
Familienparadigma: familienspezifische Weisen der Weltwahrnehmung
David Reiss (1981) hat das Konzept Familienparadigma geprägt. Sein Fokus ist die familiale Konstruktion von Wirklichkeit in dem Sinne, in dem Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1971) diesen Begriff verstanden haben. Für David Reiss ist die Familie der Ort, an dem gesellschaftliche Erfahrung organisiert und an den Nachwuchs vermittelt wird.
„Die Familie bietet ihren Mitgliedern allerlei Erklärungen der Welt an, die dazu dienen, primär externe und interne Erfahrung zu organisieren. Diese Reduktion von Ungewissheit ist ungeheuer lohnend“ (Reiss 1981, 155, Übersetzung dieses und der folgenden Zitate von mir, B. H.).
Familienparadigmata als Bündelungen dieser Erklärungen werden durch Interaktion geschaffen und aufrechterhalten, und gleichzeitig prägen sie die Interaktion. Familienspezifische Interaktionsmuster formen und modulieren Information. Des Weiteren speichern sie Informationen über Zeit, vor allem, was Lösungsmuster in Krisensituationen anbelangt. Schließlich objektivieren Interaktionsmuster die Vorstellungen der Familie über sich selbst. Umgekehrt wird in familialen Interaktionsmustern den Familienmitgliedern die außerfamiliale Welt vermittelt, allerdings in familienspezifisch modulierter Form (Berger und Luckmann 1971, S. 141). Dabei geht es um drei grundlegende Themen: Um die Betonung der graduellen Trennung von der Familie und ihrer Umgebung, um den Erhalt einer über Generationen tradierten Familienkultur und schließlich darum, dass Familien in unterschiedlicher Weise ihre Beziehung zu ihrer Umwelt gestalten – die einen eher passiv, die anderen eher aktiv.
Fazit: Reiss’ Überlegungen machen deutlich, wie Familien gegenüber der Außenwelt ihre relative Autonomie herstellen und aufrechterhalten: Sie bedienen sich der Ressourcen der sie umgebenden Welt, d. h. der jeweilig vorfindlichen gesellschaftlichen Handlungs- und Orientierungsmuster, und passen diese der Spezifik ihrer eigenen Welt an. Dass diese Entwicklung im Wesentlichen unbemerkt verläuft, spricht Reiss an verschiedenen Stellen an.
Fallbeispiel: Ich stelle eine Familie vor, die sich seit Generationen als Arbeiterfamilie versteht. Schon der Großvater war Maschinenarbeiter und hat den Ortsverein der SPD gegründet, sein Sohn heiratet eine Partnerin, die als Krankenschwester bei der Arbeiterwohlfahrt tätig ist, während ihr Mann sich, nun im Ruhestand, als Organisator von Freizeitveranstaltungen für Senioren nützlich macht. Die Kinder werden selbstverständlich in der Gesamtschule eingeschult. Weil der Großvater ein begeisterter und erfolgreicher Taubenzüchter ist, verbringt diese Familie ihre Freizeit gemeinsam mit Vereinskameraden sonntags am Taubenschlag, um die Ankunft der am Vorabend in einiger Entfernung freigelassenen Tauben zu erwarten. Bei Familienfeiern wie Geburtstagen und Hochzeiten wird das Vereinsheim genutzt.
Eine Familienkrise entsteht, als der älteste Sohn Ernst bei der Jungen Union Pressesprecher wird. Diese Krise schwächt sich aber ab, als die lokale SPD mit der lokalen CDU eine Koalition im Magistrat eingeht. Jetzt müssen die Eltern ihre inniglich gepflegte Feindschaft gegenüber der CDU überdenken.
Der Sprengsatz dieser konstruierten Familie liegt darin, dass proletarische Milieus bereits in den 1970er Jahren in Auflösung begriffen waren (Josef Mooser 1984). Als Ernst eines Sonntags beim Frühstück von seiner neuesten Lesefrucht im Rahmen der Einführungsveranstaltung zu seinem politikwissenschaftlichen Studium referiert und die These von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ zum Besten gibt, sieht der Vater seine festgefügten Vorstellungen von der Klassengesellschaft bedroht, und in klassischer Weise („so lange du deine Füße …) verbietet er die Erörterung solcher kämpferischen Thesen am Esstisch.
Als er Lehrer ist, wendet sich Ernst von der Taubenzucht des Vaters ab, richtet aber im Garten seines Hauses Ställe ein, in denen er erfolgreich Karnickel züchtet und es bis zur Kreismeisterschaft in der Kategorie des Deutschen Widder bringt.
Folge ich der Matrix von Olsen u. a. (vgl. nächstes Kapitel), hat man es hier mit einer rigide verstrickten Familie auf der Ebene der Weltauffassungs- und Interaktionsmuster zu tun. Als Agent der Transformation ihres ins Abseits laufenden Familienmusters bietet sich der Sohn Ernst an, er schlägt den in diesem Milieu klassischen Aufstiegsweg über Bildung ein.
Interaktionsprozesse an den Familiengrenzen
In Bezug auf die Sozialisation des Nachwuchses haben Familien eine doppelte Aufgabe: In der Zeit, in der das Kind/die Kinder noch klein ist/sind, fördert es sein/ihr Gedeihen, wenn es/sie gegenüber der Außenwelt geschützt wird/werden. Förderlich ist hier die Abgrenzung nach außen und die Schließung der Familiengrenzen. Bedenkend, dass heute bereits Dreijährige Smartphones verwenden, kommt die Medienwelt notgedrungen zur Sprache. Ich hätte bereits weiter oben darauf eingehen können, dass der Versuch der Eltern, das zu steuern, nur von begrenzter Wirkung ist. Da helfen auch Verbote der Nutzung von Smartphones, wie sie neuerlich diskutiert und teilweise auch umgesetzt werden, nichts. Allerdings werden die von den üblichen Bedenkenträgern erhobenen Warnungen vor den Einflüssen der Moderne auf die Kindheit notorisch übertrieben. Katastrophenszenarien an die Wand zu malen verschafft mehr Aufmerksamkeit als das Aussenden von beruhigenden Botschaften im Angesicht bedrohlicher Szenarien (nicht so Dornes 2012). Von opferfixierten und resilienzvergessenen Milieus ist nichts anderes zu erwarten.
Werden die Kinder älter, steht deren Ablösung von der Familie an. Damit diese gelingen kann, gilt es, die Familiengrenzen zu lockern und die Familie der sie umgebenden Welt gegenüber zu öffnen. In jedem Fall sind Schließung und Öffnung Aufgaben, die die gesamte Dauer des Aufwachsens der Kinder betreffen, Flexibilität erfordern und je nach Situation widersprüchlich sind. David H. Olsen und Mitarbeiter haben entlang der Achsen Kohäsion (Grenzen schließen) und Flexibilität (Grenzen öffnen) eine Matrix von 16 Feldern gebildet, die in den Extrempositionen problematische Familien kennzeichnen (D. H. Olsen 2000; Funcke & Hildenbrand 2018, Kap. 9.7, mit einem Beispiel).
Familienmuster und die Frage nach Wiederholungen
Vorab Grundsätzliches: Eine der Grundfragen der menschlichen Existenz bezieht sich darauf, wie der Mensch historisches Geschehen deutet und ihm einen Sinn gibt. Deutet er Zeitlichkeit als Wiederholung, dann greift er zu einem Mythos. Mythen machen die Welt verständlich und vorhersehbar und sind insofern im Alltag nützlich. Entscheidet sich der Mensch gegen den Mythos, dann begreift er sich als Erzeuger der Geschichte, der nicht von Mythen abhängig ist (Eliade 2007, Kap. IV.1). Auch das ist eine Möglichkeit, Tradition und Moderne gegeneinander abzusetzen.
Ein Beispiel: Nach Kriegszeiten verweist der Sachverhalt des abwesenden Vaters auf ein kollektives Schicksal, das nicht erklärungsbedürftig ist. Viele Väter sind im Krieg gefallen. Im „Goldenen Zeitalter der Familie“, das in den 1950er Jahren zu Ende ging, wird die Abwesenheit des Vaters als Zeichen für soziale Desintegration skandalisiert. Später, in Zeiten hoher Scheidungsquoten, löst sich diese Einschätzung auf, an ihre Stelle treten Normalitätszuschreibungen, und Alleinerziehende werden zu Helden/Heldinnen. Andere familienbezogene Themen werden bedeutsam, zum Beispiel die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Kurzum: Innerhalb von 50 Jahren, bezogen auf Deutschland, erlebte das Muster der um jeden Preis vollständigen Triade einen mehrfachen Wandel. Hier von Wiederholungen zu sprechen wäre absurd.
Um der Frage nach der Bedeutung von Wiederholungen im menschlichen Leben näher zu kommen, erinnere man sich an Goethe, der geschrieben hat:
„Was du ererbt von deinen Vätern hast/ erwirb es um es zu besitzen“ (Goethe, Faust I, Nacht, Z. 682f. S ,43).
Auf den vorliegenden Zweck übersetzt heißt das, dass ein Erbe, ein Vertreter der nachfolgenden Generation, sich zum Objekt der Familiengeschichte macht, wenn er das Vorgegebene übernimmt. Wenn er aber das Vorgegebene erwirbt, dann macht er sich zum Subjekt der Familiengeschichte, und es kommt zu einer Transformation. Transformationen kann man unterscheiden zwischen solchen, die mit dem bisherigen Muster identisch sind, einerseits, und solchen, die dem bisherigen Muster äquivalent sind, andererseits. Der oben erwähnte Ernst ist ein Vertreter dieser zweiten Variante von Transformation. Manche, die mit Transformationen in einem gegebenen Fall befasst sind, gehen erwartungsvoll an die Sache heran und sind maßlos enttäuscht, wenn es nicht zu einer Transformation kommt, die das gänzlich Neue hervorbringt. Das ist dann der andere Mythos, denn das gänzlich Neue gibt es nicht. Hat man genug Erfahrung mit dem Rekonstruieren von Familiengeschichten, stellt man mitunter fest, dass Menschen tatsächlich in der Weise, wie Joseph Beuys sich das vorgestellt hat, Künstler ihrer eigenen Lebensgeschichte sind, indem sie sich im Abstand zum Ererbten neu erfinden.
Am Leitfaden Goethes betrachtet, lässt sich also feststellen, dass das Diktum von den Wiederholungen, die bei der Vergegenwärtigung von Familiengeschichten so wichtig sein sollen, wesentlich differenzierter ist, als das auf den ersten Blick aussieht. Auf diese Erkenntnis stößt man, wenn man die nächsten beiden Zeilen im „Faust“ liest:
„Was man nicht nützt, ist eine schwere Last/ nur was der Augenblick erschafft, das kann er nützen“ (Faust Teil eins, Nacht, S. 45, Z685.).
Die Transformation findet demnach in der Spontanität des Augenblicks statt und beinhaltet unweigerlich noch Spuren des Vergangenen:
„Das Neue folgt – wenn es in Erscheinung tritt – immer aus der Vergangenheit, doch bevor es auftritt, folgt es per Definitionem nicht aus der Vergangenheit“ (George H. Mead 1969, S. 230).
Allerdings verhilft die Kenntnis dieser Zeilen von Goethe, auch der von Mead noch lange nicht zur Entdeckung eines Musters. Es gilt, methodisch vorzugehen. Die Methode der Wahl ist nach meiner Auffassung die Sequenzanalyse (Hildenbrand 2004), mit der man sich von Generation zu Generation vorarbeitet, sich an einen spezifischen Zeitpunkt in der infrage stehenden Generation versetzt und von dort aus die offenen und die problematischen Möglichkeiten des Handelnden erkundet. Hat man das lange genug vorangetrieben, fällt das Muster wie eine reife Frucht vom Baum.
Das gilt es zu belegen. Der Nachweis der Tauglichkeit eines methodischen Vorgehens ist das Fallbeispiel.
Die Familie Cropland (Name geändert)
Es handelt sich um einen landwirtschaftlichen Familienbetrieb im mittleren Westen der USA, den ich mit Dr. Charles B. Hennon, er möge in Frieden ruhen, untersuchte, weil wir einer agrarsoziologischen Frage nachgehen wollten (Hennon und Hildenbrand 2005).
Familie Cropland (vgl. Hildenbrand 2020, für die vorliegenden Zwecke überarbeitet) betreibt in dritter Generation Landwirtschaft in Ohio. Keith Cropland I erwarb in den 1920er Jahren einen Hof mit 250 Acres (ca. 100 ha) und war landesweit als Züchter von Arbeitspferden bekannt. Sein zweiter und jüngster Sohn Martin bewirtschaftete zunächst den Hof seiner Großmutter mütterlicherseits und wandte sich dann dem Transportwesen und der Restaurierung alter Traktoren zu. Dessen ältester Sohn Neil war zunächst abhängig beschäftigter Viehzüchter und kaufte nach und nach vier Höfe, angelegt nach etabliertem Muster der Landbesiedelung im Mittleren Westen auf einer zusammenhängenden Fläche von einer Quadratmeile. Somit verfügte er schließlich über einen Hof mit arrondierten 640 Acres (ca. 250 ha), auf dem er Schweine und Kälber mästet sowie Mais und Bohnen anbaut. Zeitweise wird weiteres Land gepachtet. In Spitzenzeiten bringt es die Familie auf 21 Höfe mit insgesamt 1700 Acres (ca. 680 ha). Daneben handelt Neil in den 1970er Jahren mit Kälbern, beschaffte diese im nördlichen Teil des Staats New York und befördert sie nach Ohio, das bedeutet eine Distanz über 760 Meilen (1200 km) pro Strecke. Begleitet wird er von seinem zweitgeborenen Sohn Keith II. In den 1980ern betreibt Neil eine USA-weit operierende Spedition. Zwei seiner drei Söhne (Derrick und Keith II) arbeiten zunächst ständig im Betrieb auf seinen verschiedenen Arbeitsfeldern. Der jüngste Sohn, Frank, leitet ein Stahlunternehmen und besitzt eine Baufirma. Alle drei Söhne haben an der Peripherie des Hofareals ihre Häuser errichtet und leben dort mit ihren Familien. Die Tochter Corinna, das älteste der vier Kinder, hat einen Metallarbeiter geheiratet und lebt in einer Großstadt. Sie ist die Einzige, die den Rahmen der Familie in doppelter Hinsicht verlassen hat: Mit der Landwirtschaft hat sie nun nichts mehr zu tun und bewegt sich jetzt im Arbeitermilieu. In ihrer Herkunftsfamilie spielt sie dem Anschein nach keine Rolle mehr.
Eine Krise tritt ein, als Keith II im Alter von ca. 40 Jahren zufällig über seine Frau Kelsey, die ebenfalls aus der Landwirtschaft stammt, aber als Geschäftsführerin eines Hotels tätig ist, erfährt, dass nach elterlicher Absicht Keith‘ älterer Bruder Derrick den Betrieb allein übernehmen soll. Keith II pachtet daraufhin ohne weitere Klärung des Sachverhalts von seinem Vater 40 Acres (ca. 16 ha) Land und richtet dort eine Baumschule, Gewächshäuser mit Feingemüse und einen Bauernmarkt ein, in dem er eigene Erzeugnisse und solche, die von den Amish der Umgebung geliefert werden, vermarktet. Wenn Zeit ist und Aufträge da sind, übernimmt er mit seinem Lkw Transporte meist landwirtschaftlicher Schüttgüter zu den Häfen des Ohio River. Im Winter arbeitet er als Klempner in der Baufirma seines jüngsten Bruders.
Die Kränkung über die Zurücksetzung durch seine Eltern hat Keith II noch nicht überwunden; das Thema ist in der Familie tabu und wird nach offiziellem Abschluss unseres Interviews von seiner Frau Kelsey und nicht von ihm selbst ins Gespräch gebracht. Beim Abschied zwischen Tür und Angel steckt sie uns die Information von seinem Ausschluss aus der Hofnachfolge zu. Dass Keith II sich als Bevorzugter wähnte, mag er daraus abgeleitet haben, dass er, obwohl zweitgeborener Sohn, nach seinem Großvater, der landwirtschaftlichen Leitfigur und dem Patriarchen in der Familie, benannt wurde und als Junge seinen Vater regelmäßig beim Viehtransport begleitete.
Keith II ist vom Habitus her Landwirt geblieben. Seine Lebensphilosophie fasst er in zwei Sätzen zusammen: „Ich muss die Kontrolle haben“ und „Die Landwirtschaft liegt uns (!) im Blut.“ Dem kann aus seiner Sicht die Tatsache nichts anhaben, dass unter den derzeitigen Bedingungen eine Familie in den USA von 250 Hektar nicht ernährt werden kann, auch wenn Kelsey als Geschäftsführerin eines mittleren Unternehmens zum Familienunterhalt einen beachtlichen Beitrag leistet.
Der zentrale Konflikt in diesem sozialen Gebilde von dreien – es ist in der Tat eine Dreizahl, denn das vierte Geschwisterkind, Corinna, hat frühzeitig das Feld geräumt. Offenbar ist ihr deutlich geworden, dass sie in dieser Männergesellschaft nichts zu gewinnen hat. Der klassische aus der Bibel bekannte Konflikt zwischen Kain und Abel also spielt sich hier zwischen den beiden älteren Brüdern ab, die sich gemäß der Familientradition der Landwirtschaft verschrieben haben. Der jüngste Sohn Frank hat sich, ähnlich wie Corinna, auf der Grundlage des Selbstständigkeitshabitus der Familie auf eigene Beine gestellt. Dennoch spielt er unter den Brüdern noch eine Rolle, indem er Keith II im Winter in seinem eigenen Bauunternehmen beschäftigt. Das ist das eine Dreieck in diesem Spiel.
Indem Keith II, als er sich von den Eltern und dem ältesten Bruder ausgebootet sieht, sich kurzerhand auf dem Familiengrundstück mit einem Bauernmarkt selbstständig macht, befreit er sich zumindest ökonomisch aus der Abhängigkeit der Familie und leistet einen Transformationsschritt, der dem Franks und Corinnas gleichkommt. Dieser familiale Tanz um Konflikte herum lebt auch davon, dass fast alle noch in Sichtweite (außer Corinna) auf dem Gelände leben. Hauptakteur ist Neil. Im Kern ist Neil, folgt man Georg Simmel, der Störenfried im Dreieck Neil – Derrick – Keith II, und nicht ums Wunder ist es die von außen Dazugekommene (die Beigefreite Kelsey), die Ehefrau von Keith II, die das gut geölte Dreieck stört, indem sie ihre Ohren überall hat bzw. in die innerfamilialen Vorgänge eingeweiht wird und den Schleier des Geheimnisses lüftet. Auch Frank hat in diesem Spiel der Triaden seine eigene, stille Rolle, und welche Fäden Neils‘ Frau, die Mutter, im Hintergrund zieht, ist, wie es dem »Geheimdienstmodell der Frau im 19. Jahrhundert« (Weber Kellermann 1991) entspricht, naturgemäß nicht bekannt.
Welche Optionen hat Keith II? Nach biblischem Vorbild, Derrick zu erschlagen, ist schon lange keine Option mehr. Keith II harrt mit seiner Familie auf dem familieneigenen Gelände aus und behauptet sich durch Präsenz und Innovation.
Noch einmal zum Familienmuster: Was ich bei den Croplands beobachtet habe, ist ein still geführter Kampf unter den Geschwistern um den Anteil an einer respektablen Familiengeschichte. Dieses Muster nenne ich mit Olsen Verstrickung. Der dazugehörende Kampf wird von zwei Geschwistern (Frank, Corinna) unter dem Stichwort Exit (das Feld verlassen) geführt. Zwei weitere (Derrick und Keith II) erhalten den Kampf unter dem Stichwort Voice (um seine Position kämpfen) am Leben. Derrik jedoch muss nicht kämpfen, seine Position ist ihm durch den Vater gesichert. Die Eltern sind an diesem Kampf stille Teilhaber, wobei zu beobachten ist, dass die maßgeblichen Akteure, auch Frank, sich jeweils auf dem Gelände der Farm eingerichtet haben, sich also ständig im Auge behalten und so ihren Anteil an der Verstrickung sichern können.
Um nun wieder zur Frage der Wiederholungen zu kommen: Für die nachfolgende Generation stellt sich die Aufgabe, den gordischen Knoten der Verstrickung zu zerschlagen. Ich erwarte, auch wenn Prognosen mit Vorsicht zu behandeln sind, im günstigen Fall lautstarke, konflikthaft verlaufende Ablöseprozesse. Im ungünstigen Fall könnte man still leidende Nesthocker antreffen. Das hier relevante Szenario kann bei Helm Stierlin (1980) nachgelesen werden.
Die Milieurelativität von Familien und die Vielfalt der Wege in die Zukunft bei gleichbleibendem Kern
Die bisher in diesem Text vorgestellten Beispiele sind zwei unterschiedlichen Familienmilieus entnommen: aus dem Milieu der Arbeiterfamilie und dem der familienbetrieblichen Landwirtschaft.
Es bei diesen Milieus zu belassen, wäre zu einfach, denn die Moderne weist auch in Bezug auf die Familie eine Vielfalt von Entwicklungen auf. Für eine Übersicht über diese Vielfalt greife ich zurück auf eine Studie aus dem Jahr 1990 (Burkhard und Kohli 1992).
Man mag dagegen einwenden, dass diese Studie veraltet ist und dass sich als Alternative die von den Bundesregierungen turnusmäßig und auftragsgemäß mehr vorgestellten Familienberichte anböten. Dem stimme ich nicht zu. Denn diese Familienberichte stellen regierungsamtliche Verlautbarungen dar und fokussieren im empirischen Teil auf Statistiken und Fragebögen. Gleich gesinnte Sozialwissenschaftler (weiblich oder sonst was) liefern dafür die gewünschten Daten. Familienleben, wie es sich im Alltag zeigt und wozu der privilegierte Zugang der der Einzelfallstudie ist, kommt dort nicht vor. Der letzte (9.) Familienbericht der Bundesregierung stammt aus dem Jahr 2023 und präsentiert sich bereits in der Überschrift als Selbstbeweihräucherung des verantwortlichen Ministeriums. Er ist, wenn der Inhalt der Überschrift folgt, ein Dokument für Wunschdenken. Geprüft habe ich diese Aussage mit Ausnahme von Querlesen nicht, dazu ist mir meine Zeit zu schade.
Das Arbeiter-Familien-Milieu
Das für dieses Milieu erforderliche Material haben die Autoren in südbadischen Dörfern sowie im Ruhrgebiet erhoben. Sie sind der Ansicht, dass man aus diesen Milieu sein allgemeines „Modell“ mit den beiden Ausprägungen „Versorgungsehe“ und „Liebesehe“ entwickeln kann Der Begriff „Modell“ ist falsch gewählt, denn um ein Modell handelt es sich nicht, allenfalls um habitualisierte, sozial abgeleitete Orientierungen in Sachen Familienehe. Gleichzeitig weisen die Autoren auf die Komplexität der Verbindung von Liebe und Dauer hin. Und weiter: „Liebe ist die Voraussetzung der Ehe, und Elternschaft ist ihr Zweck“ (S. 247). Eine Bestimmung von Liebe erfolgt nicht. Neuere Soziologen benutzen zur Beschreibung von Liebe die Formulierung „Höchst Relevanz: die oder keine“ Um diesem Mangel abzuhelfen, behelfe ich mir mit der eingängigen Formel von der Höchstrelevanz: „Die oder keine“ (Tyrell 1987).
Des Weiteren unterlassen es die Autoren, auf Kernpunkte im neuzeitlichen „Modell“ von Ehe und Familie hinzuweisen. Es geht dabei um vier Solidaritäten (Oevermann 2001, S. 87f.):
Alle triadischen Beziehungen in der Kernfamilie (Paar-Beziehung, Eltern-Kind-Beziehungen) sind prinzipiell unkündbar, daraus resultiert die Solidarität des gemeinsamen Lebenswegs.
Konstitutiv für diese Beziehung ist die Körperbasis (erotische Solidarität, bei der Eltern-Kind-Beziehung gilt das Inzesttabu).
Die wechselseitigen Beziehungen sind affektbesetzt (affektive Solidarität).
Burkhard und Kohli gehen von einem gesellschaftstheoretischen Ansatz aus und interessieren sich daher nicht für den Ansatz der sozialisatorischen Interaktion innerhalb der Familie. So erklärt sich diese Fehlstelle.
Bei ihren Studien haben die Autoren auch die „Versorgungsehe“ herausgestellt. Für alle, die mit ländlichen Lebenswelten nicht vertraut sind, wird sie eine Merkwürdigkeit darstellen. Hintergrund für diese nur noch selten vorkommende Ehe ist, dass auch jene, „denen die Natur oder ihre Herkunft und Erziehung keine günstige Startposition in der Konkurrenz um die Gunst des anderen Geschlechts beschert haben“ (S. 246), eine Gelegenheit auf einen Eheschluss haben. Denn verheiratet zu sein ist auf dem Dorf eine Grundbedingung für Normalität.
Diese Bestimmungen gelten auch für die im Folgenden beschriebenen Milieus, zumindest aus der Sicht des Untersuchungszeitraums. Das kann jedermann erkennen, wenn er die Welt so erfährt, wie sie sich ihm darstellt, und er sich nicht durch Ideologie einschränken lässt. Bei der Ideologie ist man angelangt, wenn man einen Blick wirft auf die allfälligen Verfallsszenarien der Familie, die ihren Höhepunkt in den 1970er Jahren hatten: Deren Tod wurde in Aussicht gestellt, für allerlei Krankheiten (vom Krebs bis zur Schizophrenie) wurde sie als Ursache ausgewiesen. Heute spricht niemand mehr davon. Den Verfallsszenarien steht nicht nur entgegen, dass gleichgeschlechtliche Paare um die Anerkennung ihrer Partnerschaft (bedingt erfolgreich) ringen und dass die Ehe nach wie vor sehr nachgefragt ist. Gegen die Familie als Ursache von Krankheiten sprechen die empirischen Befunde.
Kurzum: Ideologisch begründete Vorlieben und Abneigungen missachtend, sind Ehe und Familie eine gesellschaftliche Tatsache. Allerdings weisen sie im Laufe der Zeiten um einen stabilen Kern herum kontinuierlichen Wandel auf. Ein vorweggenommenes Beispiel für diesen Wandel ist das Thema der „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“, auch die Formulierung „Work-Life-Balance“ wird gern genommen, woran sich die Familienministerien seit den 1970er Jahren abarbeiten. Der Erfolg ist bescheiden: Der seit 2013 gesetzlich garantierte Anspruch auf Kinderbetreuung ab dem ersten Lebensjahr scheitert am Mangel an Plätzen und Personal, kurz: am Geld, mit den Folgen, dass der Anspruch an Frauen in Sachen Berufstätigkeit nicht umgesetzt werden kann und die Frauen in die Teilzeit treibt, was ihnen auf lange Sicht eine im Vergleich zu den Männern niedrigere Rente einbringt. Wandel wird sich bei der Betrachtung der folgenden Milieus zeigen:
Das Milieu der technischen Vernunft
Erhoben wurden die hierfür erforderlichen Daten in Milieus der technischen Intelligenz. Man findet dieses Milieu in Stadtrandlagen mit Dominanz von Großbetrieben der Mikroelektronik, des Flugzeugbaus und der Rüstungsindustrie, im vorliegenden Fall in München.
In diesem Milieu steht man der Eheschließung mit einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber, die Lebenshaltung ist zweckorientiert. Es dominiert eine hedonistische Lebensführung, in der wenig Platz ist für ein Kind. Der Alltag der gut ausgebildeten Partner ist partnerschaftlich organisiert. Wo ein Kind gewünscht wird, bietet der Partner den dafür erforderlichen Rahmen. In dieser Präferenz für weibliche Erfüllung in Ausbildung und Berufstätigkeit liegt der entscheidende Unterschied zum Arbeitermilieu, ebenso die unterschiedliche Finanzkraft dieser Paare.
Nun kommen die Autoren auf die Partnerschaftsehe zu sprechen, die sie als Resultat aus der Unvereinbarkeit von Liebe und Dauerhaftigkeit erkannt haben und die sich hier im Alltag als Zweckbündnis zeigt. Die Autoren haben Elemente der modernen Partnerschaft (Ehe als rational bestimmtes Zweckbündnis) vor allem in diesem Milieu gefunden, aber auch in anderen der von ihnen vorgestellten Milieus.
Das Milieu der individualisierten Akademiker
haben die Autoren in West-Berlin untersucht. Den Akademikern sprechen sie den größten Einfluss auf die Veränderung von Geschlechterbeziehungen zu. Das ist nicht weiter überraschend, denn Norbert Elias hat in seiner Untersuchung über den Prozess der Zivilisation bereits auf den Sachverhalt hingewiesen, dass Transformationen in der Regel von der Oberschicht auf die Unterschicht ausstrahlen (Elias 1978, S. 342ff.). Ein zeitgenössisches Beispiel wäre dafür die Zeitschrift Brigitte, die in ihren Artikeln Oberschichtwerte und -haltungen transportiert, mehrheitlich aber von Sekretärinnen gelesen wird, die hieraus Anregungen für ihre Lebensführung beziehen.
Im individualisierten Milieu der Akademiker sind beide Partner eher an Selbstverwirklichung im Beruf als an einer Paarbeziehung interessiert. Auf eine Ehe wird nicht verzichtet, sondern auf die Heirat wie auch auf Kinder, da diese den Anspruch an Selbstverwirklichung behindern. Zu diesem Paarentwurf passt das „Modell“ der individualisierten Partnerschaft, in der beide Partner sich auf die Karriere konzentrieren. Die Aufrechterhaltung zweier Haushalte, u. U. auch in unterschiedlichen Städten, fördert diesen Entwurf, der im Übrigen anfällig ist für Scheitern.
Das alternative Milieu: Zwischen Tradition und Moderne
Das klassische Biotop, in dem dieses Milieu gedeiht, ist wiederum West-Berlin (diese Studie wurde vor dem Zusammenbruch der DDR 1989 durchgeführt).
„Zwischen Tradition und Moderne“ heißt, dass die Veränderungsbestrebungen in diesem Milieu einerseits auf „alte Werte“ wie Gemeinschaft, Solidarität und Menschlichkeit“ gerichtet sind, ohne „postmoderne“ Werte wie Freiheit und Individualisierung zu meiden. (Ich kann diese Gegenüberstellung nicht nachvollziehen, denn Gemeinschaft, Solidarität und Menschlichkeit sind nicht alt, sondern universell, und Freiheit als Wert reicht als Topos der Geistesgeschichte lange zurück). Soll diese Bestimmung heißen, dass aus Sicht der Autoren das alternative Milieu keine eigenständigen Wertvorstellungen hervorgebracht hat? Die Formulierung „zwischen“ weist in der Regel darauf hin, dass man es so genau nicht weiß und es auch nicht genauer wissen will, oder die Autoren sind unentschlossen.
Wie dem auch sei: Im alternativen Milieu beobachten die Autoren in Paarbeziehungen die Notwendigkeit von Kompromissen zwischen Freiheitsanspruch und Eifersucht („Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“, hieß es damals). Diese Kompromisse resultieren in der Praxis der „seriellen Monogamie“.
Im alternativen Milieu gelten Kinder als lebensbejahend, und die Bedeutung der „weiblichen Werte“ haben hier eine größere Chance der Durchsetzung als bei den Akademikerinnen, woraus in diesem Milieu resultiert: „Die Männer müssen sich stärker verändern als die Frauen“ (S. 259).
Damit schließe ich das Referat über die Familienmilieus der Gegenwart ab. Die aufmerksame Leserin, der Leser vielleicht auch, wird feststellen, dass diese Studie zwei Mängel hat: Der erste Mangel besteht in einer Statik, Entwicklung wird nicht erfasst. Das wäre auch kompliziert, denn je nach Konzept von Zeit muss man immer mit der „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“ rechnen. Der zweite Mangel besteht im Milieuansatz. Ein solcher Ansatz sozusagen aus der Vogelschau vernachlässigt das Detail. Mancher Leser wird, wenn er diese Studie liest, seine Ansichten bestätigt finden, andere werden für jede Beobachtung eine Gegenbeobachtung anführen können. Gleichwohl bin ich der Ansicht, dass diese Momentaufnahme des ausgehenden 20. Jahrhunderts einen Erkenntnisgewinn mit sich bringt. Ich ändere nun die Zeitperspektive und wende mich der Frage nach der Zukunft der Familie zu.
Welche Zukunft der Familie?
Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, welches Konzept von Zukunft man zugrunde legt. Das lineare Konzept von Zukunft schreibt schlicht linear die Gegenwart in die Zukunft weiter (siehe oben, Eliade). Diesem Ansatz liegt jedoch ein elementarer Fehler zu Grunde, denn das Vergangene ist in der Gegenwart genauso enthalten wie das Zukünftige. Etwas raffinierter drückt das die französische Geschichtsschreibung aus, wo es heißt, dass die Stimmen der Vergangenheit bzw. Zukunft in einem Chor laut werden (Fernand Braudel). Manche dieser Stimmen drängen sich in den Vordergrund und überdecken andere, und was die Stimmen der Zukunft anbelangt, so ragen sie als Möglichkeiten in die Gegenwart. Das sind ungedeckte Wechsel insofern, als niemand wissen kann, was sich auf der Strecke von jetzt bis zu einem unbekannten Punkt in der Zukunft ereignen wird. Das ist das Grundproblem einer jeden Prognose.
Lassen Sie mich ein krasses Beispiel wählen, erschrecken Sie bitte nicht: Was würde aus der Familie werden, wenn in der Zukunft eine nationalsozialistisch orientierte Partei an die Macht käme? Würde dann die Familie nach bekanntem Vorbild durch Anstalten zur Züchtung arischer Menschen ersetzt? Zur Beruhigung sei gesagt, dass unsere Demokratie hoffentlich stark genug sein wird, entsprechenden Zumutungen zu widerstehen. Außerdem haben solche Gesellschaften in der Vergangenheit nicht lange Bestand gehabt, aber wer kann das wissen.
Günter Burkhardt und Martin Kohli führen gegen die beobachtbare gesellschaftliche Unverbindlichkeit in Sachen Familien ins Feld, dass „die soziale Lage immer noch bis zu einem beträchtlichen Grad das Verhalten und die Einstellungen“ (1992, S. 261) in Sachen Familie bestimmt. In dieser Hinsicht sehen die Autoren den zentralen Einfluss in der Bildung. In meinem Verständnis heißt das: Je gebildeter die Menschen sind, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich traditionalen Entwürfen unreflektiert hingeben, besonders, wenn es sich um Sozialwissenschaftler handelt. Und weiter halten die Autoren fest: Sowohl die individuellen als auch die familialen Lebensformen haben über Epochen und Kulturen hinweg gemeinsam existiert. Ob der Konflikt zwischen Individualismus und Familienorientierung auch in Zukunft gelöst werden kann ist eine Frage, die für die Autoren offen ist.
So einfach sollte man es sich nicht machen: Nehmen wir beispielsweise das Akademikermilieu, das den Individualismus in besonderer Weise kultiviert. Wie geht man dort mit dem Alter um, wenn man nicht auf die Solidaritätsform des gemeinsamen Lebenswegs zurückgreifen kann? Verlässt der Mann seine dement gewordene Partnerin, weil ihm die passende Ansprechpartnerin fehlt, oder orientiert er sich in seinen Ansprüchen an die Lebensführung um, fährt er sein Engagement im Beruf und sonstige Ansprüche zurück und wendet sich mehr der Pflege zu? Zugestanden, ist das eine müßige Frage, denn man verfügt in diesem Milieu über ausreichend finanzielle Mittel, um sich Pflegeleistungen zu kaufen, darf sich dann aber nicht über eine sinnreduzierende Instrumentalität in dieser Beziehung beklagen. – Möglicherweise sind solche Fragestellungen nicht greifbar, wenn man einen gesamtgesellschaftlichen Ansatz zum Thema der Familie wählt. Ein Einzelfallbezug ist unabdingbar.
Dorett Funcke und ich (2009) gehen an die Frage nach der Zukunft der Familie nicht aus gesellschaftstheoretischer, sondern aus sozialisationstheoretischer Sicht heran. Wir schauen auf die Familie als Interaktionszusammenhang und sind, nachdem wir unterschiedliche Formen unkonventioneller Familien, die durch Abwesenheit gekennzeichnet sind (siehe oben), zu folgenden Schlüssen, die Zukunft der Familie betreffend, gekommen:
„Auch unkonventionelle Familien orientieren sich an kernfamilialen Mustern – das zentrale Thema ist die Differenz von Anwesenheit und Abwesenheit der Positionen in der Triade“ (2009, 233ff.).
Die Familie ist also, da stimmen wir Tilman Allert (1998) zu, eine „unverwüstliche Lebensform“. In einer späteren Publikation (Funcke und Hildenbrand 2018) spitzen wir unsere Formulierungen zur Zukunft der Familie unter strukturellen Gesichtspunkten wie folgt zu: „Anthropologisch gesehen ist die Familie unersetzbar“, und: „Soziale Gesetze können nicht ausgehebelt werden.“ Damit orientieren wir uns an dem Soziologen Karl Otto Hondrich (2001) und seinem Buch über den „neuen Menschen“.
Falls Sie nun zu dem Schluss kommen, dass dem Autor zum Thema Zukunft der Familie nichts Belastbareres einfällt, außer dass er auf den in der Vergangenheit entstandenen elementaren Strukturen beharrt und jenseits dessen Prognosen ablehnt, kann ich nicht widersprechen. Methodisch betrachtet ist das Problem jeder Prognose die, dass man von der Zukunft noch keine Daten hat.
Um eine Definition dieses Begriffs bereits jetzt einzuführen, der im vorletzten Kapitel dieses Beitrags prominent abgehandelt werden wird, schlage ich, auch um unnötige Komplexität zu vermeiden, die von Günter Burkhart und Martin Kohli (1992) gegebene Definition vor: „Unter einem Milieu verstehen wir einen regional begrenzten Ausschnitt der Gesellschaft, in dem durch die Zusammensetzung der Bevölkerung sowie die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten sich bestimmte Wertvorstellungen eher durchsetzen konnten und damit auch vorherrschende Lebensweisen entstanden sind“ (S. 16).
Ich habe mir gerade den Internetauftritt dieses Bauernmarkts angesehen. Er wird präsentiert unter dem Familiennamen. Vornamen und damit eine personale Zuschreibung fehlen. Noch hat eine Entflechtung der Familie nicht stattgefunden Inzwischen ist ein Restaurant dazugekommen, und Keith II hat sich einen größeren LKW, jetzt mit Auflieger, angeschafft. Auf dem Parkplatz sieht man eine Parade alter Traktoren. Sie werden wohl aus dem Besitz von Keith‘ Onkel Martin sein – das wäre ein Indikator für Familienkohäsion.
Literatur
Alber, Erdmute (2005): Veränderungen von Kindheit und Elternschaft bei den Baatombu in Westafrika. In: Busse, Gerd; Meier-Hilbert, Gerhard; Schnurer, Jos (Hrsg.) Kinder in Afrika. Oldenburg. Freire. S. 136-154.
Allert, Tilman (1998): Die Familie – Fallstudien zur Unverwüstlichkeit einer Lebensform. Berlin, New York. Walter de Gruyter.
Berger, Peter L., Luckmann, Thomas (1971): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt am Main. S. Fischer
Burkhart, Günter, Kohli, Martin (1992): Liebe, Ehe, Elternschaft – die Zukunft der Familie München, Zürich. Piper.
Dornes, Martin (2012): die Modernisierung der Seele. Kind – Familie – Gesellschaft. Frankfurt am Main. S. Fischer Taschenbuch Verlag.
Eliade, Mircea (2007): Kosmos und Geschichte – der Mythos der ewigen Wiederkehr. Frankfurt am Main und Leipzig. Verlag der Weltreligionen im S. Fischer Verlag.
Elias, Norbert (1978): Über den Prozess der Zivilisation. Zweiter Band: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation (5. Aufl.).
Fivaz-Depeursinge, Elisabeth, Corboz-Warnery, Antoinette (2001): Das primäre Dreieck: Vater, Mutter und Kind aus entwicklungstheoretischer Sicht. Heidelberg. Carl-Auer.
Hildenbrand, Bruno, Karl Friedrich Bohler, Walther Jahn, Reinhold Schmidt (1992) Bauernfamilien im Modernisierungsprozess, Frankfurt am Main: Campus.
Funcke, Dorett, Hildenbrand, Bruno (2009): Unkonventionelle Familien in Beratung und Therapie. Heidelberg: Carl Auer Systeme-Verlag.
Funcke, Dorett, Hildenbrand, Bruno (2018): Ursprünge und Kontinuität der Kernfamilie – Einführung in die Familiensoziologie. Wiesbaden: Springer VS.
Goethe, Johann Wolfgang (1999): Faust: Texte. Hrsg. von Albrecht Schöne. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Hennon, Charles B., Hildenbrand, Bruno (2005): Modernising to Remain Traditional: Farm Families Maintaining a Valued Lifestyle. Journal of Comparative Family Studies Vol. XXXVI, No. 3, pp. 505-520.
Hildenbrand, Bruno (2004): Gemeinsames Ziel, verschiedene Wege: Grounded Theory und Objektive Hermeneutik im Vergleich. Sozialer Sinn 2, S. 177-194.
Hildenbrand, Bruno (2005): Einführung in die Genogrammarbeit. Heidelberg: Carl Auer Systeme-Verlag. 6. Aufl. 2024 (russ. Übs. 2012).
Hildenbrand, Bruno (2018): Genogrammarbeit für Fortgeschrittene – vom Vorgegebenen zum Aufgegebenen. Heidelberg: Carl Auer-Systeme Verlag.
Hildenbrand, Bruno (2020): Geschwisterbeziehungen. Familiendynamik 45(1): 4-10.
Hildenbrand, Bruno (2023): Fallverstehen, Begegnung und Verständigung – Grundlagen berufsfachlichen Handelns im Kinderschutz. Baden-Baden: Ergon in der Nomos Verlagsgesellschaft.
Hondrich, Karl Otto (2001): Der neue Mensch. Frankfurt am Main. Suhrkamp.
Lévi-Strauss, Claude (1981): Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Mooser, Josef (1984): Arbeiterleben in Deutschland 1900-1970. Frankfurt am Main. Suhrkamp.
Oevermann, Ulrich (2001): Die Soziologie der Generationenbeziehungen und der historischen Generationen aus strukturalistischer Sicht und ihre Bedeutung für die Schulpädagogik. In Kramer, Rolf-Thorsten, Helsper, Werner, Busse, Susann (Hrsg.) Pädagogische Generationsbeziehungen – Jugendliche im Spannungsfeld von Schule und Familie. Opladen. Leske und Budrich S78 – 128.
Olsen, David H. (2000): Circumplex Model of Marital and Family Systems. In: Journal of Family Therapy 22) 144-167.
Reiss, David (1981): The Family’s Construction of Reality. Cambridge, Massachusetts, London. Harvard University Press.
Simmel, Georg (1983): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Berlin: Duncker und Humblot (6. Aufl.).
Stierlin, Helm (1980): Eltern und Kinder – das Drama von Trennung und Versöhnung im Jugendalter. Frankfurt am Main. Suhrkamp.
Sulloway, Frank J. (1996): Born to Rebel. Birth Order, Family Dynamics, and Creative Lives. London. Little, Brown and Company.
Tyrell, Hartmann (1987): Romantische Liebe – Überlegungen zu ihrer ‘quantitativen Bestimmtheit‘. In: Baecker, Dirk, Markowitz, Jürgen, Stichweh, Rudolph (Hrsg.) Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag. Frankfurt am Main. Suhrkamp. S. 570-599.
Weber-Kellermann, Ingeborg (1991): das männliche und das weibliche. Zur Sozialgeschichte der Geschlechterrollen im 19. und 20. Jahrhundert. In: E. Moltmann-Wandel u. U. Bernauer (Hrsg): Frau und Mann: alte Rollen, neue Werte. Düsseldorf: Patmos, S. 15-46
Marburg 2024