Am 22.12.2021 berichtet die Süddeutsche Zeitung, dass Tschaikowskys Nussknacker-Suite vom Berliner Staatsballett wegen „rassistischer und kolonialistischer“ Szenen einstweilen vom Spielplan genommen wurde (SZ 22.12.2021). Gegen diese Entscheidung verwahrte sich der russische Botschafter, (dessen Arbeitgeber gerade wegen eines Auftragsmords in Berlin beschuldigt worden war, weswegen er, der Botschafter, als Beschwerdeführer bei der deutschen Regierung vorstellig geworden ist). In seiner Stellungnahme brandmarkte der russische Botschafter die Verantwortlichen für die Verbannung des im Jahr 1892 entstandenen Stücks als „Club der auserwählten Moralapostel“. Womit er nicht ganz daneben liegt; denn handelt sich in Sachen Tschaikowsky um ein aktuelles Exempel der „Woke-Kultur“. Es wäre nur erfreulich gewesen, wenn das kritische Bewusstsein des Botschafters beim Auftragsmord ähnlich geschärft gewesen wäre. – Zurück zum Thema: Man kann von dieser so genannten Kultur (woke) denken was man will, könnte aber folgendes in Betracht ziehen:
Schlägt man im Wörterbuch (Pons) das Wort ’woke‘ nach, wird man zunächst belehrt, dass es sich um das Imperfekt von „wake“ handelt (woke up this morning, and my little red rooster was gone, um ein geläufiges Beispiel zu nennen). Unter diesem Stichwort erfährt man dann auch, dass “to hold a wake“ heißt: Totenwache halten. Totenwache wofür? Im vorliegenden Zusammenhang wird es sich um die Totenwache für eine absterbende Zeit handeln, in der es noch möglich war, über Worte zu diskutieren und dem anderen seine Deutung zulassen, ohne ihn moralisch zu verurteilen.
Tempi passati. Inzwischen ist unter dem Druck der Ausladungs-„Kultur“ auch die Tradition der freien Rede bedroht, wenn nicht schon untergegangen. Das reicht von den Universitäten bis in die Familien.
Am 28.10.2021 hat das französische Magazin l’Obs (vormals: Le Nouvel Observateur) dem Thema des amerikanischen „Wokisme“ einen langen Artikel gewidmet. Der Autor, Xavier de la Porte, hat dazu eine Umfrage unter den in den USA lehrenden französischen Wissenschaftlern veranstaltet und folgendes erfahren: Als wichtigstes Ergebnis zeigt sich dem Leser, dass dem Phänomen des „wokisme“ an allen Universitäten der USA begegnet werden kann. Besonders die Eliteuniversitäten, genannt wird Harvard, seien davon betroffen. Es werden auch Wege genannt, dem dadurch entstehenden Druck entgegenzutreten, meist auf rationalem Weg. Die beste Lösung sei allerdings, sich nicht zu sehr aus dem Fenster zu hängen, denn Argumente laufen ins Leere und enthalten ohnehin, wie Jürgen Habermas neulich entdeckt hat, keine Tröstung. Ein interessantes, entlarvendes Beispiel wird genannt: Ein Dozent verzichtete auf ein Seminar über französische Literatur, weil er dort den Begriff „négritude“, der in den 1930er Jahren in Afrika und in Frankreich zur Diskussion stand, zu erörtern gehabt hätte. [Es handelt sich dabei um eine vom ersten Präsidenten des Landes Senegal aufgegriffene literarische, politische und philosophische Richtung, bei der es darum ging, dass die Eigenständigkeit der ’schwarzen‘ Kultur herausgestellt wurde; es ging also nicht um das „N“-Wort, sondern um ein Projekt im Rahmen der Entkolonialisierung].
Damit ist das meiste gesagt, und man erinnert sich mit Grausen an eine klandestine Figur im Roman von Philip Roth, „The Human Stain“ aus dem Jahr 2000.
Inzwischen ist in den USA eine Tendenz im Entstehen begriffen, sich vom Zwang der Woke- und Cancel-Kultur zu befreien, indem Intellektuelle eigene Hochschulen gründen. Dass sich dafür Standorte im Süden der USA anbieten, dürfte manchen nicht gefallen, die diese Gegend unverdrossen für „Trump-Land“ halten, ohne sich um Details zu kümmern. Solche könnten sie reichlich finden in Arlie Russel Hochschilds Studie „Strangers in Their Own Land: Anger and Mourning on the American Right“, New York & London 2016.
Damit will ich es gut sein lassen. Es ist davon auszugehen, dass der Nussknacker mehr Gesellschaft bekommen wird, als ihm lieb ist. Schließen will ich mit einem Zitat aus dem 2021 erschienenen Roman, Über Menschen, von Juli Zeh:
„Die Tragik unserer Epoche besteht darin, dass die Menschen ihre persönliche Unzufriedenheit mit einem politischen Problem verwechseln“ (S.173), und die noch größere Tragik, so erlaube ich mir zu ergänzen, besteht darin, dass sie diese Unzufriedenheit lauthals artikulieren und dabei noch Gehör finden und darüber nicht mit sich reden lassen.