Unausgeschöpftes im Werk von Anselm Strauss und Juliet Corbin

Resilienz, Ressourcenorientierung und die Hauptarbeitslinien bei der Bewältigung chronischer Krankheit

Im Sozialwesen, dem wir unausweichlich begegnen, wenn wir uns als Soziologen im Stil der Chicago School mit sozialen Problemen befassen, kursieren etliche Begriffe, die eher schwach voneinander abgegrenzt sind:

Diese Begriffe lauten: Ressourcenorientierung und Salutogenese. Letztere wird gerne verwechselt mit Resilienz. Salutogenese und Resilienz unterscheiden sich in Bezug auf die zugrunde liegenden Motive (Schütz 1971). Die Salutogenese bezieht sich auf Um-zu-Motive. Die typische, prospektive Frage von Antonovsky (BZgA 1997) war: „Was muss jemand tun, um gesund zu bleiben?“ Demgegenüber befasst sich die Resilienzorientierung retrospektiv mit Weil- Motiven: „Jemand konnte Gedeihen trotz widriger Umstände, weil…“

Ob gegeneinander abgegrenzt oder nicht: Der Vorteil dieser Konzepte besteht darin, dass sie die aktiv handelnde Person ins Zentrum stellen und jede Opfertheorie ignorieren, außer, eine solche drängt sich auf. Das hier zu Grunde liegende Menschenbild ist das des aktiv handelnden, seine Zukunft entwerfenden Subjekts. Dabei kann der Entwurfshandelnde an Grenzen stoßen. Ist dies der Fall, nimmt der den Fall rekonstruierende Soziologe gerne das Angebot an, seinen Untersuchungsgegenstand unter einer Opferperspektive zu behandeln.

Im Folgenden will ich mich mit dem Resilienzkonzept (Welter-Enderlin und Hildenbrand 2012) befassen und zeigen, wie dieses erheblich verbessert werden kann. Dafür ist es erforderlich, einige Konzepte, die ich der Studie „Unending work and care“, dt. „Weiterleben lernen“ von Juliet Corbin und Anselm Strauss (2004) entnehme, heranzuziehen.

Diese Konzepte seien vorab schon genannt. Es handelt sich um die

  • Hauptarbeitslinien bei der Bewältigung einer chronischen Erkrankung
  • das Trajektkonzept
  • die konditionelle Matrix

Das Resilienzkonzept von Frederic Flach

Das Resilienzkonzept, auf das ich mich hier beziehe, stammt von Frederic Flach (2004), es wird hierzulande so gut wie gar nicht wahrgenommen. Flach ist Mediziner; sozialwissenschaftliche Forschungen nimmt er nicht zur Kenntnis. Er zieht es vor, die Welt neu zu erfinden. In Sachen Resilienzforschung ist Emmy Werner hierzulande immer noch die Leitfigur (Werner & Smith 2001).

Resilienz ist ein Begriff der Materialforschung und bezeichnet dort die Fähigkeit eines Materials, nach Belastung zum ursprünglichen Zustand zurückzukehren „to bounce back“. Soziologen haben bisher das Resilienzkonzept noch nicht zur Kenntnis genommen, das hängt wohl zusammen mit der o.e. weit verbreiteten Opferorientierung der Soziologie, die im Resilienzkonzept keine Rolle spielt. In der Soziologie gelten folgende Fragen als nicht besonders attraktiv:

  • Wie kommt es, dass Individuen, die widrige Umstände durchleben mussten, daran nicht zerbrochen sind?
  • Wie konnte es ihnen gelingen, Möglichkeiten der Bewältigung zu finden, die sie auch später bei erneut auftretenden Krisen nutzen können?

Aus soziologischer Sicht sind das nicht besonders aparte Fragen. Mehr Aufmerksamkeit gewinnt, wer überall Unheil, Elend und Leid entdeckt und die gesellschaftlichen Verhältnisse dafür verantwortlich macht.

Der „normale Zyklus von Störung und Reintegration“. Von mir ergänzt um die Kategorie des „Trajekts“, Flach 2004, S.14.

Das Resilienzkonzept von Frederic Flach in seiner Beziehung zum Konzept der Hauptarbeitslinien bei Corbin und Strauss

Im folgenden geht es mir darum, zu zeigen, wie das Schlüsselkonzept der Bewältigung chronischer Krankheit, die Hauptarbeitslinien (Corbin und Strauss 2004, S. 352), in seiner Aussagefähigkeit verbessert werden kann durch das Konzept der Resilienz. Wie es dem Denken im Stil der Grounded Theory (Strauss 1994) entspricht, werde ich diese Überlegungen am Material, genauer: an Fallbeispielen, entwickeln.

Zunächst soll es um die „Hauptarbeitslinien bei der Bewältigung einer chronischen Erkrankung“ gehen, also um die Ausgangsbedingungen, mit denen Akteure bei der Bewältigung chronischer Krankheit konfrontiert sind. Danach wird der Prozess der Krankheitsbewältigung zum Thema werden. Dem folgen vier Fallbeispiele zur Integration der Konzepte.

Zur Definition von chronisch: „Chronisch“ bedeutet, dass es sich bei der Krankheitsbewältigung um „Arbeit und Mühe ohne Ende“ handelt. Krankheit wird behandelt als eine kritische Lebenssituation welche einen

  • biografischen Bruch herbeiführt, indem
  • Routineannahmen und Routinepraktiken nicht mehr gelten,
  • das Ich infrage gestellt ist und
  • Ressourcen mobilisiert werden müssen.

Hinsichtlich der Frage, welcher Arbeitsbegriff bei diesen Überlegungen zugrunde liegt, unterscheiden die Autoren wie folgt: „Welche Arten von Arbeit mit welchen Arten von Berufen verbunden sind und welche Unterschiede die Arbeit im Hinblick auf die Vorgänge zwischen den Vertretern desselben Berufs bzw. unterschiedlicher Berufe hervorbringt“ (Corbin & Strauss 2004, S. 24f.).

Das ist typisch Strauss und Corbin. Auf Fragen der Definition des Arbeitsbegriffs gehen sie nicht ein. Sie entwickeln ihre Überlegungen vom Feld her. In einer Diskussion mit Kollegen in Europa müssten sie sich gefasst machen auf die Frage, ob sie sich bei ihrem Arbeitsbegriff auf den frühen Marx oder auf den späten Marx beziehen. Strauss lässt erkennen, dass derlei Fragen bei der Erörterung eines materialen Themas nur aufhalten, weshalb er ohne Scheu von „Gefühlsarbeit“ bzw. „Biografiearbeit“ spricht.

Weitere Präzision der Hauptarbeitslinien: Krise und Prozess

Ich fahre fort mit der Erläuterung der von Corbin und Strauss verwendeten Begrifflichkeit. Dabei schließe ich an an die Medizinische Anthropologie der Heidelberger Schule sowie an die phänomenologisch orientierte Soziologie.

Bruch von Routineannahmen und Routinepraktiken. Man könnte sich hier mit dem Begriff der habits (Peirce, James) behelfen, um in Strauss‘ eigenem Paradigma zu bleiben, ich aber ziehe die Behandlung dieses Themas in der an der Phänomenologie orientierten Soziologie von Alfred Schütz vor. Mit Schütz in Anlehnung an Husserl kann man davon ausgehen, dass mit dem Einbruch einer chronischen Krankheit die „Generalthesen der natürlichen Einstellung“ nicht mehr greifen einschließlich der Idealisierung des „und so weiter“ und des „ich kann immer wieder“. (Schütz 1972, S. 269). Es handelt sich also um eine Krise.

Krise, kritische Lebenssituation. Viktor v. Weizsäcker definiert Krise wie folgt: „das in der Krise befindliche Wesen ist aktuell nichts und potentiell alles“ (1973: 249f.). Nichts ist der Mensch wegen der oben beschriebenen verlorengegangenen natürlichen Einstellung (Blankenburg 1971). Alles ist er wegen des vor ihm stehenden Raums problematischer Möglichkeiten. Auch hier hilft Husserl weiter: Er schreibt von „offenen“ und „problematischen“ Möglichkeiten (Schütz 1971, S. 91 ff). Problematische Möglichkeiten sind solche, für die etwas spricht, auf sie kommt es an. Demgegenüber beziehen sich offene Möglichkeiten auf zukünftige Erwartungen. Sie sind definitionsgemäß völlig offen.

Hier ein Beispiel: Mit dem Vordringen der Mechanisierung in der Landwirtschaft wird das Handwerk des Schmieds zunehmend entbehrlich. Es gibt keine Arbeitspferde mehr, die zu beschlagen wären. Offene Möglichkeiten in einer solchen Situation wäre die Umstellung auf Raketenbau. Für diese Möglichkeit spricht in der gegebenen Situation nichts. Problematische Möglichkeiten wäre die Umstellung des Betriebs auf die Herstellung von Wagen, also der Einstieg in den Fahrzeugbau. Für diese problematische Möglichkeit spricht etwas, und tatsächlich entwickelt sich die erwähnte Schmiede in Sachen Fahrzeugbau zum Weltmarktführer (Hildenbrand 2018a).

Das Ich. Das zugrundeliegende Konzept von Ich oder Identität ist hier das des Symbolischen Interaktionismus, im Zentrum stehen also Interaktion, Spiegelungsprozesse im Anderen, Perspektivenübernahmen (Strauss 1968, Krappmann 1973). Es ist, wie oben angesprochen, ein aktiv handelndes Ich, das jedoch nicht der Gesellschaft gegenübersteht, sondern ein Teil von ihr ist (Mead1969), vgl. auch Bourdieu, wie oben zitiert.

Krankheitsbewältigung als Zustand und als Arbeit (Prozess): mit dem Zustand sind zunächst einmal nur die Aufgaben genannt, also die Hauptarbeitslinien, zu denen gehören: Krankheit/Alltag/Biografie. Diesen können Berufsgruppen zugeordnet werden: Die Arbeitslinie Krankheit gehört zur Medizin, die des Alltags zur Sozialarbeit bzw. Sozialpädagogik, die der Biografie zur Psychologie. Ich kann mir gut vorstellen, dass angesichts der wachsenden Vermischung von Disziplingrenzen über diese Zuordnung schnell Streit entstehen kann, der mich hier jedoch nicht interessiert.

Soweit zum Thema Krankheitsbewältigung, soweit der Zustand, also die Ausgangslage betroffen ist. Nun komme ich zur Krankheitsbewältigung als Prozess.

Für den Symbolischen Interaktionisten ist alles Prozess. In einem hierzulande eher selten rezipierten Werk von Anselm Strauss schreibt dieser von „Continual permutation of action“ (1993). Dieser Prozesscharakter alltäglichen Handelns findet im Ansatz von Corbin und Strauss seinen Begriff in dem des Trajekts.

Flach, um auf ihn zurückzukommen, skizziert mit seinem Schema zwar einen Verlauf, schenkt aber dem Prozesscharakter und der Prozessdynamik dieses Verlaufs keine Beachtung. Corbin und Strauss handeln dieses Thema unter dem Aspekt des Trajekts (auch Verlaufskurve) ab:

„Obwohl ein Zukunftsbild vom Krankheitsverlauf und seinen Auswirkungen entworfen werden kann und wird, ist die endgültige Form einer Verlaufskurve wegen der möglichen Schicksalswendungen und Unwägbarkeiten erst am Ende eines Menschenlebens erkennbar. Trotzdem können wir im theoretischen Sinn auf die Entwicklung einer Verlaufskurve zurückblicken und deren Form bis zum gegenwärtigen Augenblick verfolgen“ (Corbin & Strauss 2004, S. 59, zum Trajektkonzept vgl. auch Corbin, Hildenbrand, Schaeffer 2009).

Das heißt auch, dass keine lineare Beziehung besteht zwischen den Entscheidungen, die am Beginn eines Krankheitsverlaufsprozesses getroffen werden, und dem Ende dieses Prozesses. Das hängt damit zusammen, dass die Zukunft nicht vorhergesagt werden und man nie wissen kann, was auf der Strecke zwischen Anfang und Ende passieren wird. Zu dieser Erkenntnis formuliert Niklas Luhmann lakonisch: „Man jagt sich Tag für Tag durch den Wald, um gesund zu bleiben, und stürzt schließlich mit dem Flugzeug ab“. (Luhmann 2003, S. 39). Die Rationalität einer Handlung kann daher nicht vom Entwurf, sondern nur vom Vollzug her entschieden werden (Schütz 1971). Beispielsweise hat jeder gedacht, dass der Dieselmotor der Motor der Zukunft ist. Bis die Betrügereien des VW-Konzerns u.a. ans Licht kamen. Jetzt spricht alle Welt vom Elektromobil, bis man erkannt hat, dass ein Ersetzen des Dieselmotors durch einen Elektromotor in erheblichem Umfang Arbeitsplätze kosten wird. Außerdem kommt immer noch ein nennenswerter Anteil von Strom aus Kohlekraftwerken. Und noch ist nicht bekannt, was geschehen wird, wenn der Fokus wieder mehr auf die Kohlenwasserstoffe, die bekanntlich vom Benzinmotor stärker als vom Dieselmotor emittiert werden, gerichtet wird. Die unerwünschten Nebenfolgen der Produktion von Elektrobatterien seien vornehm verschwiegen. Soweit zum Thema Rationalität in der modernen Gesellschaft.

Ich komme nun zu drei Fallbeispielen:

Beispiel 1: Die Familie Mailänder

Frau Mailänder war eine der ersten Patientinnen, die mir als Mitarbeiter der offenen Akutstation der psychiatrischen Klinik der Philipps-Universität Marburg anvertraut wurden. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt eine lange Odyssee stationärer psychiatrischer Behandlungen hinter sich, zuletzt wurde sie an einem psychiatrischen Krankenhaus in ihrer Heimat für mehrere Monate behandelt. In dieser Situation, in der sich die Psychiatrie am Ende ihrer Weisheit wähnte und alle Möglichkeiten einer psychopharmakologischen Behandlung offenbar ausgeschöpft waren, konnte man den Soziologen auf die Probe stellen. Meinem Können als Anfänger (dieser Fall ist auch ein Beispiel für Anfängerglück) gemäß versuchte ich zunächst, mit dieser Frau ins Gespräch zu kommen. Also bat ich sie, mir ihre Familien-und Lebensgeschichte zu erzählen.

Das klingt simpel, führte aber zügig zum gewünschten Erfolg. Frau Mailänder begann, von ihrer kleinen Familie zu erzählen (von Beruf war sie Kindergärtnerin in leitender Position), von schönen Campingurlauben, von der Tätigkeit ihres Mannes als Wissenschaftler, auch von ihrem gemeinsamen, fünfjährigen Sohn. Dann aber trübte sich ihre Stimmung ein: Ihr Mann verhalte sich in der letzten Zeit merkwürdig, er trage seidene Unterwäsche und sei abends oft lange weg. Direkt gefragt, stimmte sie meiner Einschätzung zu, dass ihr Mann möglicherweise schwul sei (das war damals, 1979, noch ein Tabuthema. Auf einen schwulen Außenminister und auf einen solchermaßen orientierten Hauptstadtbürgermeister musste das Land noch eine Weile warten). Im weiteren Verlauf des Gesprächs wurde deutlich, dass der gesamte Lebensentwurf dieser Frau mit ihrer Erkenntnis von der sexuellen Orientierung ihres Mannes zusammengebrochen war und sie vor den Scherben ihrer Existenz stand. Der Versuch, ihr labiles Gleichgewicht in einer Phase des Chaos aufrechtzuerhalten, war schief gegangen, jetzt war sie in der Phase der Destabilisierung ihrer Biografie, die sich im vorliegenden Fall in einer Regression in der Depression zeigte. Die Diagnose beim Eintritt der Patientin in die Klinik lautete „Depression“. Heute würde man ihren Zustand vermutlich als „burn out“ einschätzen und den Fokus der Behandlung auf ihre Situation am Arbeitsplatz, wo vermutlich Arbeitsüberlastung, eine zunehmende Zahl von Kindern mit ADHS und dergleichen oder mit Migrationshintergrund, unkooperative Eltern nicht zu vergessen als Laienerklärung für die bedauernswerte Situation der Patientin herangezogen würden. Damit befände man sich aber vollständig auf dem falschen Gleis. Durch den Blick auf die biografische Situation von Frau Mailänder hatten wir die Phase des Chaos erreicht. Jetzt ging es also darum, dem Trajekt eine andere Richtung zu geben, wofür jedoch der Berater nicht die Verantwortung übernehmen kann. Die Ideen dazu müssen von der Klientin selbst kommen, und die Aufgabe des Beraters besteht darin, für die mit jedem Übergang einhergehenden Irritationen die geeignete affektive Rahmung zu schaffen, die es ermöglicht, solche Übergänge zu bewerkstelligen (Welter-Enderlin und Hildenbrand 2004, Hildenbrand 2017).

Als nächstes schlug ich der Patientin vor, ihren Mann zu einem Paargespräch einzuladen. Herr Mailänder sagte problemlos zu. Im Gespräch verstanden wir uns gut, da wir gleich zu Beginn einen guten Anknüpfungspunkt fanden, der mit seiner wissenschaftlichen Tätigkeit zu tun hatte. Die aktuelle Situation der Außenorientierung von Herrn Mailänder wurde zur Sprache gebracht, offenbar zum ersten Mal. Ich lenkte das Gespräch dann nicht in die Richtung, dass über Konsequenzen zu sprechen wäre. Stattdessen war ich der Ansicht, der Prozess sei nun angeschoben, für alles Weitere würden die Eheleute schon selbst sorgen.

Später berichtete Frau Mailänder im Einzelgespräch, dass ihr Mann manchmal gemeinsam mit ihrem Sohn bade und dass sie die Sorge habe, es könne zu einem Übergriff kommen. An dieser Stelle war mir wichtig, den unterstellten Zusammenhang von gleichgeschlechtlicher Orientierung und Pädophilie in Zweifel zu ziehen (auch hier wieder ein Blick auf die damaligen Zeitverhältnisse: In Göttingen erschien ein Flugblatt, unterzeichnet von Jürgen Trittin, mit der Forderung nach einer selbstbestimmten Sexualität von Kindern und Jugendlichen. Heute schämt man sich dessen bei den Grünen zu Recht). Es wäre dem bevorstehenden Trennungsprozess sicher nicht förderlich, sie würde auf bloßen Verdacht ihrem Mann eine Straftat unterstellen. Dieses Thema verschwand dann auch aus den Gesprächen, was deutlich zeigt, dass es für Frau Mailänder nicht relevant war.

Bald danach konnten wir die Entlassung von Frau Mailänder ins Auge fassen. Vorher aber bot ich ihr an, mit ihr und ihren Kolleginnen ihre Rückkehr an ihre frühere Arbeitsstelle und in die Leitungsfunktion zu besprechen. Auch dort zeigten sich keine unüberwindlichen Hindernisse, und damit konnte ein Ende des stationären Aufenthalts geplant werden. In den folgenden vier Jahren hat Frau Mailänder keinen Kontakt mehr zur Klinik gehabt, eine Katamnese zum Zweck dieser Falldarstellung verlief ergebnislos (offenbar haben die Eheleute Mailänder sich getrennt oder in den letzten Jahrzehnten die Stadt verlassen).

Die Arbeit an diesem Fall blieb stecken in der Erzeugung von Chaos und im Erzeugen der Grundlagen dafür, dieses Chaos zu bewältigen und auf eine Phase neuen Gleichgewichts hinzuarbeiten: Bezogen auf die Hauptarbeitslinien der Krankheitsbewältigung zeigt sich folgendes: Körpermedizinische Symptome lagen nicht vor, weshalb es diesbezüglich auch nichts zu bewältigen gab. In Bezug auf den Alltag stand vor Frau Mailänder die Aufgabe, sich auf ein Leben als alleinerziehende Mutter einzurichten, biografisch hieß das, bisherige Lebensentwürfe zu verabschieden und auf neue hinzuarbeiten. Da ich Frau Mailänder aus den Augen verloren habe, kann ich über den gesamten Prozess der Krankheitsbewältigung bis zu seinem Abschluss nichts aussagen.

Einige Wochen nach der Entlassung erhielt ich einen Brief von der Mutter der Patientin, in welchem sie mir überschwänglich für meine Hilfe dankte. Wir hätten ihrer Tochter geholfen, einen langen Krankheitsprozess zum Abschluss zu bringen.

Diese Falldarstellung zeigt, dass Frau Mailänder über substantielle Resilienzquellen verfügen konnte, die den Verlauf begünstigten. Dazu zähle ich: Kommunikationsbereitschaft des Ehepaars Mailänder, Bereitschaft, gemeinsam schwierige Themen anzusprechen, unterstützungsbereite Kolleginnen am Arbeitsplatz, um die wichtigsten zu nennen. Als weitere Resilienzquelle würde ich den von mir gewählten biografischen und milieubezogenen Ansatz werten.

Fallbeispiel 2: Der afrikanische Schutzengel

Der folgende Fallverlauf wartet gleich mit zwei Vorzügen auf: Zum einen gibt er Gelegenheit, einen kompletten Resilienzverlauf zu verfolgen, zum anderen ist er als Film jedermann zugänglich. Es handelt sich um den sehr erfolgreichen Film „Ziemlich beste Freunde“, der im französischen Originaltitel „Les Intouchables“ (die Unberührbaren) heißt.

Es geht um eine wahre Geschichte, in der zwei Personen die Hauptrolle spielen: Abdel Sellou, ein Algerier, und Philippe Pozzo di Borgo, geboren in Tunesien. Sellou wird im Film von einem Schwarzafrikaner verkörpert. Vielleicht hat der Regisseur einem Nordafrikaner nicht zugetraut, glaubwürdig Lebensfreude zu verkörpern, die man aus europäischer Sicht eher in Schwarzafrika vermutet. Pozzo gehört der französischen Oberschicht an, war Geschäftsführer eines namhaften Getränkeherstellers und Chefredakteur der Zeitschrift „Elle“. Seit einem Sportunfall ist er vom Hals abwärts gelähmt. Sellou ist ein Kleinkrimineller aus der Pariser Vorstadt.

Die beiden begegnen sich, als für Pozzo ein neuer Pfleger gesucht wird. Seit dem Unfall von Pozzo hat sich um ihn herum ein rigides System der Pflege entwickelt, welches einen strikt einzuhaltenden Tagesablauf vorsieht und bei welchem die Belange nur einer Hauptarbeitslinie der Krankheitsbewältigung, der medizinischen, im Vordergrund stehen.

Beziehen wir uns auf den von Flach vorgeschlagenen Konzept des Krankheitsverlaufs-Zyklus, ist bis hierher die linke Seite bereits abgearbeitet, und Pozzo befindet sich in der Phase des Chaos. Im vorliegenden Fall ist das Chaos eine eingefrorene Situation (ähnlich wie bei Frau Mailänder, nur anders, denn Pozzo ist nicht depressiv, sondern gleichbleibend geduldig, freundlich und hat sich seiner Situation ergeben, einer Situation, in der sich nichts mehr bewegt – bis eben Sellou auf die Bildfläche tritt. Sellou, gerade aus dem Gefängnis entlassen, bewirbt sich auf die ausgeschriebene Stelle als Pfleger. Ernsthaft interessiert ist er daran nicht, es geht ihm nur darum, das Arbeitsamt davon zu überzeugen, dass er sich um Arbeit bemüht hat, um weiterhin Arbeitslosenunterstützung zu erhalten.

Pozzo findet an dem unbotmäßig und lässig auftretenden Sellou Gefallen und bestellt ihn ein zweites Mal ein, um ihm zu verkünden, dass er die Arbeitsstelle erhalten wird. Das ist Sellou zunächst einigermaßen unangenehm, aber er richtet sich ein. Unverzüglich bringt er das von einigen der strengen Damen, die um Pozzo herumschwirren, sorgfältig ausgeklügelte Pflegesystem durcheinander. Eine dieser Damen versucht er auch anzubaggern. Sie lässt ihn eine Weile zappeln, um ihm dann zu offenbaren, dass sie sich bereits in einer Paarbeziehung befinde, und zwar in einer gleichgeschlechtlichen. Das ist ein schwerer Schlag für Sellou.

In einer Schlüsselszene, die gleich am Beginn des Films und später noch einmal zu sehen ist, erweckt Sellou im Hof der Pariser Stadtvilla, in der Pozzo lebt, einen unter einer Plane vor sich hin rostenden Maserati und dessen zahlreiche, jedoch schlummernden Pferde zum Leben. Gemeinsam mit seinem neuen Arbeitgeber rast er durch Paris unter Missachtung sämtlicher Verkehrsregeln, was sofort die Aufmerksamkeit der Polizei auf sie zieht. Sellou gibt der Polizeistreife an, sein Arbeitgeber befinde sich gerade in einem kritischen Zustand, er müsse unverzüglich ins Hospital gebracht werden. Pozzo spielt mit, mimt den Sterbenden und veranlasst so die Polizei zum Rückzug. Diese Szene ist die Ouvertüre zu einigen weiteren Unkonventionalitäten, mit denen Sellou das eingefrorene Pflegesystem aufweicht und wieder in Bewegung bringt: Er unternimmt mit Pozzo einen Bordellbesuch, erfährt dabei, wie ein Querschnittsgelähmter sexuell stimulierbar ist, und beschafft ihm des Nachts in einer Situation unerträglicher Schmerzen Marihuana, das beide gemeinsam genießen.

Pozzo seinerseits ist auch nicht untätig: In einer Nacht-und-Nebel-Aktion entführt er seinen Pfleger im Lear-Jet nach Savoyen, um mit ihm Gleitschirmfliegen im Tandem zu veranstalten. Sellou hat eine Heidenangst, Pozzo ist über die Maßen glücklich, und aufgrund dieser Aktion befinden sich nun beide in einer Beziehung Ebenbürtiger. Begonnen hat dieses Arbeitsbündnis in der Kooperation von Pozzo und Sellou bei der Begegnung mit der Polizei.

Nun der analytische Blick: Die bisherigen Bewältigungsversuche bis zum Auftreten von Sellou sind dadurch gekennzeichnet, den status quo durch sorgsam austarierte medizinische Interventionen zu sichern. Das führt dazu, dass weder die Schmerzen des Patienten gelindert noch Entwicklungen möglich werden, der Alltag ist auf Pflege und Medizin reduziert, die Biografie spielt keine Rolle mehr. Als jedoch Sellou auf den Plan tritt, taut diese Situation allmählich auf, und ein Wandel tritt ein im Rahmen der erwähnten „kleinen Fluchten“ (Autofahrt, Prostituierte, Kiffen, Gleitschirmfliegen), kurz: das eingefrorene Chaos wird unter Anleitung von Sellou aufgetaut.

Über einige Schritte, die im Film nicht gezeigt werden, kommt es zu einem neuen Gleichgewicht, dessen Beschaffenheit wir nur vermuten können. Ob dieses neue Gleichgewicht dem Kranken nun ein höheres oder niedrigeres Niveau an Lebensqualität vermittelt, kann nur dieser selbst entscheiden. Pozzo selbst spricht in einem Interview mit der ZEIT davon, dass er zwei Leben gehabt habe, und er lässt durchblicken, sein zweites, also jetziges Leben sei das bessere.

Über Pozzos Situation heute berichtet Sellou der Wiener Zeitung am 11.1.2013: „Manchmal denke ich, ich bin der Behinderte, weil er, im Gegensatz zu mir, ständig auf Achse ist. Früher scherzte ich: Tetraplegiker bewegen sich nicht, sie bleiben dort, wo man sie stehen lässt. Aber jetzt ist er es, der sich bewegt, während ich gar nicht mehr vom Fleck komme. (…) Er ist sehr aktiv, vor allem auf europäischer Ebene“.

Dem Außenstehenden bleibt die Einschätzung, dass das Gleichgewicht, das sich in diesem Resilienzprozess zeigt, ein anderes ist als das, welches das Leben von Philippe Pozzo vor seinem Unfall zeigte. Es ist nicht ein neues, sondern ein anderes Gleichgewicht.

Die konditionelle Matrix

An dieser Stelle ist es nun unabdingbar, auf das weiter vorne angesprochene, aber nicht ausgeführte Konzept der konditionellen Matrix (CM) einzugehen. Corbin und Strauss verstehen darunter ein methodologisches Konzept, welches es erlaube, den Rahmen der Arbeit im Krankenhaus auf die politischen, sozialen und ökologischen Bedingungen zu beziehen, die auf diese Arbeit einwirken. Die Autoren verweisen darauf, sie hätten dieses Konzept in Unending Work and Care ausgeführt. Jedoch findet es sich dort nicht. Der Aufsatz, auf den ich mich hier beziehe (Strauss 1990) soll wohl diese Lücke schließen.

Aus meiner Sicht ist dieses Konzept hervorragend geeignet, strukturelle Rahmenbedingungen und Interaktion gemeinsam in den Blick zu nehmen (Hildenbrand 2007, S. 543).

In Bezug auf die konditionelle Matrix jedenfalls ist dieses Konzept geeignet, das theoretische Scheindilemma zwischen Struktur und Handeln aufzulösen. Dazu vermittelt dieser Fallverlauf interessante Erkenntnisse: Eine gute materielle Ausstattung muss nicht förderlich sein für den Verlauf einer Krankheitsbewältigung, sondern kann diesen sogar behindern. Soziologen, die, wie eingangs erwähnt, notorisch opferorientiert sind und in Armut die Quelle allen Unheils entdecken, können aus dieser Beobachtung etwas lernen, sofern sie dazu fähig sind

Der Film endet damit, dass Sellou in eine Liebesbeziehung zwischen Pozzo und einer Dame aus Belgien eingreift, die über Jahre als Brieffreundschaft bestanden hat. Gesehen haben sich die beiden noch nicht. Eigenmächtig lädt Sellou diese Dame an einen Ausflugsort ein und arrangiert ein Treffen, welches Sellou aus der Ferne betrachtet. Damit endet dieser Film, und es bleibt offen, was aus der Sache wird

Im wirklichen Leben heiratet Pozzo und lebt mit seiner Familie im Königreich Marokko an einem bekannten Ferienort, das Paar hat zwei Kinder. Die abstrakte Helfergemeinschaft wurde nun abgelöst durch die Solidargemeinschaft einer Paar- und Familienbeziehung. Sellou ist zurückgekehrt in sein Heimatland, nach Algerien, und betreibt dort eine Geflügelfarm in Massentierhaltung, was ihm im Gespräch mit der Journalistin aus Österreich peinlich ist

Fall 3, der Querschnittsgelähmte als selfmademan

Die Behinderung, um die es hier geht, ist identisch mit der des Philippe Pozzo, ansonsten geht es um einen maximalen Kontrast. Pozzo stammt aus dem Pariser Großbürgertum und wurde umgeben von einem Schwarm von Helferinnen, Willy ist ein mittlerer Unternehmer, und wie Philippe hat er einen kompletten Resilienzverlauf hinter sich gebracht.

Hier die Geschichte: Ich entnehme sie der in Frankreichs Süden weit verbreiteten Tageszeitung Midi Libre, Lokalredaktion Montpellier. Dort erschien im Frühjahr 2016 ein Artikel über ihn. Anlass war, dass der von Willy mit einem Bootsbauer entworfene Katamaran in Gebrauch genommen wurde und Willy im Begriff stand, mit seiner Ehefrau zu einem Segeltörn nach Polynesien aufzubrechen. Weil man einem Querschnittsgelähmten derlei nicht zutraut, war das eine Nachricht im Lokalblatt wert.

Die Vorgeschichte: Aufgewachsen ist Willy in einem kleinen Fischerort am Mittelmeer, Le Grau du Roi, seit den 1970er Jahren eine touristische Retortenstadt. Schon als Kind segelte er. Als Erwachsener führte er eine Schreinerei und eine Spiegelfabrik, vor einigen Jahren jedoch erlitt er eine Querschnittslähmung und sitzt seither im Rollstuhl. Im Unterschied zu Philippe kann er seine Arme gebrauchen. In den ersten Jahren, die der Querschnittslähmung folgen, versucht Willy mit aller Gewalt, in seinem aktuellen Zustand zu segeln und sein Boot entsprechend umzurüsten, muss sich aber nach erfolglosen Jahrzehnten sein Scheitern eingestehen. Zu diesem Zeitpunkt schlägt ihm ein Freund und Bootsbauer vor, einen Katamaran auf Willys Zwecke hin zu entwerfen. Das gelingt nach einiger Zeit, und zusammen mit seiner Ehefrau kann Willy nun seinen Traum verwirklichen, nach Polynesien zu segeln. Von dieser Reise zeugt ein Blog unter dem Namen Yaneraud, bei dem es mir allerdings nicht gelungen ist, mich anzumelden, so dass ich nur an rudimentäre Informationen gelangte. Möglicherweise kann man dort nachlesen, was aus dieser Reise geworden ist. Mir scheint, dass die Ehe die Reise nicht überstanden hat.

In Bezug auf den Resilienzverlauf zeigt dieser Fall Folgendes: Auf der Strecke zwischen Unfall und Chaos versucht Willy, den status quo wiederherzustellen, agiert verbissen und scheitert. Die Phase des Chaos zeigt sich nach außen hin als Phase der Stagnation, wie sie bei den beiden hier zuerst erwähnten Fällen (Frau Mailänder und Pozzo) ebenfalls zu beobachten war. Zunächst lässt Willy die Sache auf sich beruhen, bis wie bei Philippe Pozzo jemand auf die Szene tritt, der in der Lage ist, die Stagnation der Verlaufskurve aufzuweichen und ihr eine andere Richtung zu geben. Aus Willys Sicht zeigt diese Richtung nach oben.

Im Zentrum der Hauptarbeitslinien stehen bei diesem Fall Alltag und Biografie, bei einer Querschnittslähmung steht die Medizin derzeit noch mit leeren Händen da. Willys Biografie ist um das Segeln herum organisiert, der Alltag davon bestimmt. Es gelingt ihm, die Frage der medizinischen Hauptarbeitslinie diesen Belangen unterzuordnen. Und er hat ein Umfeld, das ihn dabei unterstützt.

Bezogen auf die konditionelle Matrix stelle ich mir Folgendes vor: Willy wird im Artikel des Midi Libre präsentiert als selbstständiger Unternehmer, der eine Schreinerei und eine Spiegelfabrik betreibt. Diese beiden Daten, erweitert um ein drittes, seinen Vornamen, ermöglichen es, folgende Geschichte zu konstruieren, zu deren Überprüfung mir die Daten fehlen: Willy hat die Schreinerei von seinem Vater übernommen, der offensichtlich ein unkonventioneller Mensch war, denn anstatt seinen Sohn Guillaume zu nennen, wählt er den deutschen Vornamen Willy. Das ist die Kurzform von Wilhelm. Wilhelm II. war der letzte deutsche Kaiser und König von Preußen und dankte ab, nachdem Deutschland im Ersten Weltkrieg kapituliert hatte. Anschließend hackte er in Holland Holz.

Im Unterschied zum Zweiten Weltkrieg ist der erste Weltkrieg in Frankreich im kollektiven Gedächtnis dominant präsent, er heißt La Grande Guerre, und überall inFrankreich kann man einen Platz entdecken, in dessen Mitte ein Denkmal steht, auf dem alle Teilnehmer, die im Großen Krieg gefallen sind, namentlich erwähnt werden. Am 8. Mai (dem Tag der Befreiung nach dem Zweiten Weltkrieg) findet dort die traditionelle Parade statt. Wenn also ein Vater seinen Sohn nach dem (im damaligen Verständnis: Erbfeind) benennt, dann verhält er sich seiner Umgebung gegenüber unkonventionell und vermittelt an seinen Sohn die Botschaft, ebenso unkonventionell sein Leben zu organisieren. (Erst mit Willy Brandt, einem Pseudonym, wurde dieser Vorname rehabilitiert). Mit dieser Deutung wundert uns das Folgende überhaupt nicht mehr: Angenommen, Willy hat seine Schreinerei vom Vater übernommen und betreibt diese in der nun vierten Generation, dann bleibt er nicht bei diesem traditionellen Lebensentwurf, sondern er betätigt sich auch als Fabrikant in einem Erwerbszweig, der nicht logisch aus dem Geschäftsbetrieb einer Schreinerei hervorgeht: Er stellt Spiegel her. Willy erscheint damit als jemand, der Vorgegebenes nicht einfach übernimmt, sondern aktiv gestaltet.

Mit diesem Habitus hat er es auf der Strecke der Wiederherstellung des status quo zunächst übertrieben. Jedoch war er in der Lage, damit abzuschließen und die Dinge sich entwickeln zu lassen, anstatt in der Phase des Chaos zu zerbrechen.

Diese Chance hatte Philippe Pozzo erst einmal nicht. Er benötigte einen Schutzengel, der ihn aus den Klauen seiner Klasse befreite. Willy seinerseits versuchte zunächst einmal, wie ein wahrer Selfmademan, sich selbst zu helfen, und verließ sich erst auf einen Schutzengel, nachdem dieser sich in einer Situation des Scheiterns anbot. Das war nach Lage der Dinge der Bootsbauer.

Willy verfügt also über Ressourcen, die nicht nur in der Grounded Theory mit der konditionellen Matrix, sondern auch in der Resilienzforschung eine Rolle spielen: Die Nachbarschaft, der Freundeskreis gilt dort als zentrale Ressource für Resilienz (Walsh 1998). Soziologen der strengen Observanz würden an dieser Stelle sicher die Frage stellen, was denn die Nachbarschaft und der Freundeskreis mit strukturellen Gegebenheiten zu tun haben, aber diese Frage interessiert mich hier nicht, ihre Beantwortung führt hier nicht weiter. Ich gehe auch nicht der Frage nach, ob man im interpretativen Paradigma überhaupt von „Bedingungsfaktoren“ sprechen kann, das lenkt nur vom Thema ab.

Ein weiterer Fall, Schmetterling und Taucherglocke von Emmanuel Bauby, als Buch und als Film erhältlich, würde auch in diese Fallreihe gehören, trägt aber zur weiteren Erkenntnisbildung nichts bei. Wiederum mit Unterstützung eines Schutzengels (weiblich) gelingt es ihm in schier übermenschlicher Anstrengung, ein Buch über seine Erfahrungen zu schreiben, jedoch stirbt er vorzeitig auf der Strecke zwischen, um bei Flach zu bleiben, Chaos und neuem Gleichgewicht, wozu sich aber einschlägige Linien abzeichnen.

Immerhin kann man von diesem Fallbeispiel lernen, dass eine apodiktische Behandlung von Resilienzverläufen in dem Sinne, dass nur dann ein Leben lebenswert ist, wenn die Phase des verloren gegangenen Gleichgewichts überwunden wird, die Phase des Chaos gemeistert und ein neues Gleichgewicht installiert wird, in die Irre führt. Auch hier ist wieder zu sehen, dass Modelle regelmäßig am Fall scheitern, weshalb an dieser Stelle Friedrich Nietzsche zuzustimmen ist, der irgendwo gesagt haben soll, dass, wer in Modellen denkt, zu faul ist zum Denken und sich die Sache zu einfach macht.

Auf die Darstellung eines letzten Falls will ich hier nicht verzichten, weil er aus der Praxis eines Berufsförderungswerks stammt und mir von einem Pädagogen dieser Einrichtung geschildert wurde. Dieser Fall zeigt, dass die Überlegungen von Corbin und Strauss in der Praxis anschlussfähig sind, weshalb man über deren Werk auch in Termini einer Klinischen Soziologie (Hildenbrand 2018) nachdenken könnte.

Ein weiterer Fall, Auftritt von Luzifer

Es handelt sich um einen Bäckermeister, der einen Arm verloren hat und der deshalb seinen Beruf nicht mehr ausüben kann. Auf der Suche nach einer Umschulung durchläuft er im Berufsförderungswerk zunächst einige Bereiche, auch den Metallbereich, der ihm aber nicht liegt. „Ich bin ein Mehler, kein Metaller“ soll er gesagt haben. (Es ist schon bemerkenswert, dass der ihn begleitende und anleitende Pädagoge sich diesen Satz gemerkt hat). Dennoch sei er im Metallbereich, so die Mitteilung des Anleiters, durch seine Genauigkeit aufgefallen. Diesen Umstand habe er mit dem Bäcker erörtert, und auf der Suche nach einer Verbindung von Genauigkeit und Bäckerei sei man auf das Thema Qualitätssicherung gekommen. Der Idee der Qualitätssicherung konnte der Bäcker ein Interesse abgewinnen, das merke er, der Pädagoge, immer daran, dass ein Leuchten in den Augen des Klienten aufscheine (auch diese Information ist bemerkenswert, denn sie deutet auf einen engen Bezug des Anleiters zu seinen Klienten im Sinne einer Begegnung (Hildenbrand 2017a) hin). Eine solche Umschulung wurde in Angriff genommen, es wurde auch ein Ausbildungsbetrieb gefunden. Der Juniorchef einer Großbäckerei stellte ihn ein. Damit war aber Schluss, als der Seniorchef dieser Bäckerei nach einer Auszeit wieder in den Betrieb zurückkehrte. In meiner Terminologie ist er das Gegenstück von einem Schutzengel, nämlich Luzifer. Faxen wie Qualitätssicherung seien während seines Berufslebens nicht nötig gewesen, in seinem Betrieb sei eine Qualitätssicherung entbehrlich, sprach der Seniorchef und entließ den Mann.

Ausschöpfen ist keine Einbahnstraße

Aufmerksamen Lesern wird nicht entgangen sein, dass der Titel dieses Beitrags irreführend ist. Das soll nun korrigiert werden. Es geht mir nicht darum, nur auf Unausgeschöpftes im Werk von Juliet Corbin und Anselm Strauss hinzuweisen. So viel es dort für die Sozial- und Verhaltenswissenschaften auchzu holen gibt: Auch umgekehrt wird ein Schuh daraus. Das Werk beider ist weder hermetisch noch sakrosankt, und es spricht nichts dagegen, Anschlüsse an die angrenzenden Disziplinen zu suchen. Im vorliegenden Text konnte ich sogar dem Thema der Bewältigung chronischer Krankheit ein weiteres Konzept beitragen, es ist das Konzept des Schutzengels. Aber bevor dieses geschehen kann, muss das Werk erst einmal entstanden sein. Die Aufgabe des Ausschöpfens müssen dann die Jüngeren übernehmen. Darum ging es hier.

Einige wenige abschließende Bemerkungen seien gestattet:

Desiderata hinsichtlich der Entwicklung des Werks von Juliet Corbin und Anselm Strauss

Vorliegende Entwicklungen der Rezeption des Werks von Anselm Strauss geben Anlass zur Sorge:

Kernoperationen der Grounded Theory und der materialen Forschungen, die damit verbunden sind, bestehen in der Bildung von Konzepten, deren Verdichtung und Überprüfung, im ständigen minimalen und maximalen Kontrast. Sichtet man die derzeit vorliegenden Untersuchungen, in denen der Autor von sich behauptet, auf Grundlage der Grounded Theory gearbeitet zu haben, stellt man fest, dass alles, was in dieser Methodologie mit Stringenz des Denkens zu tun hat, nicht vorkommt. Konzepte sucht man vergebens, ein Schlagwortregister als Verzeichnis der entwickelten Konzepte gibt es nicht. Auch vermisst man ein stringent durchgeführtes Vorgehen, das Anselm Strauss „Microscopic examination“ (Strauss 2004) nennt und das vor der Entwicklung von Konzepten steht und zu diesen hinführt. An die Stelle strenger Deutung wird eine Nachvollzugshermeneutik gesetzt, die mit seriöser wissenschaftlicher Arbeit wenig bis nichts zu tun hat, gleichwohl aber als solche ausgegeben wird.

Es ist völlig unangemessen, das Werk von Anselm Strauss auf die Methodologie zu reduzieren. Damit wird der Blick auf Anselm Strauss als materialen Soziologen verstellt. Wie bei Max Weber, so stand bei Gaser und Strauss ein materiales soziologisches Forschungsthema im Zentrum, methodologische Fragestellungen drängten sich von dort auf. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass die erste große materiale Studie, an der Anselm Strauss erstrangig beteiligt war, Psychiatric Ideologies and Institutions, 1964 erscheint, während die Gründungsschrift der Grounded Theory „The Discovery of Grounded Theory“, (Barney G. Glaser & Anselm L. Strauss) im Jahr 1967 publiziert wird. Kurz: Wo die Methodologie als Selbstzweck behandelt wird, stellt dem Anselm Strauss die Methodologie als Mittel zum Zweck entgegen. Heute allerdings stellt man fest, dass gerade diejenigen, die gerne über die Methodologie sprechen, sich im Bereich der materialen Forschung noch nicht ausgezeichnet haben. Diese Praxis ist heute allerdings besonders karrierefördernd.

Ebenfalls karrierefördernd ist es, die Ansätze von Anselm Strauss an die jeweils gängigen Moden in den Sozial und Verhaltenswissenschaften anzupassen. Durch ein solches Vorgehen wird allenfalls demonstriert, dass jemand die Literatur kennt und es versteht, seine Fahne in den gängigen Wind zu hängen, mehr aber auch nicht.

Aber umgekehrt gilt auch: Da keine namhafte wissenschaftliche Tradition aus sich heraus leben kann, ist es auch für den Ansatz von Anselm Strauss unabdingbar, die methodologischen und medizinsoziologischen Errungenschaften, die er gebracht hat, weiter zu schreiben in der Form, dass Anschlüsse an andere Wissenschaften und Traditionen dort, wo sie sich aufdrängen und nicht gerade ephemere Moden bedienen, gesucht werden. Dazu habe ich in diesem Beitrag einen Vorschlag vorgelegt und mich im vorigen Absatz noch einmal erklärt. Auf diese Anschlüsse zu verzichten hat als unerwünschte Nebenwirkung, sich auf Dauer im Kreis zu drehen.

Literatur

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Welter Enderlin, Rosmarie & Hildenbrand, Bruno (2012): Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag. 4. Auflage.

Werner, Emmy E. & Smith, Ruth S. (2001): Journeys from Childhood to Midlife: Risk, Resilience and Recovery. New York: Cornell University Press.

Wieland, Wolfgang (2004): Diagnose – Überlegungen zur Medizintheorie. Warendorf: Verlag Johannes G. Hoof.Ich habe von 2015-2018 ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstütztes Forschungsprojekt geleitet, das dem Transfer von Ergebnissen einer Untersuchung über den Transformationsprozess der Jugendhilfe in Ost und Westdeutschland gewidmet war (Bohler u.a. 2012) und mich in kontinuierlichen Kontakt mit Jugendämtern, aber auch mit der akademischen Sozialpädagogik gebracht hat. Mein Blick auf diese ist in dieser Zeit durch eine wachsende Skepsis geprägt; Interessierte können den Projektabschlussbericht ab Sommer 2018 bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft elektronisch einsehen.

Um den in Fußnote 1 angerissenen Gedanken fortzusetzen: Bei Pädagogen kommt der Begriff des „Menschenbilds“ nicht gut an. Er wird nicht selten als „normativ“ abgewiesen. Wie aber will man mit Menschen arbeiten, wenn man sich von seinem Gegenüber keinen Begriff gemacht hat? Wichtig ist dabei, dass der Begriff nicht über der Erfahrung steht, sondern im Stil der Grounded Theory darin gegründet ist. Vgl. für ein differenziertes Konzept Girke und Matthiessen (2015).

Ein besonders peinliches Beispiel dafür ist die ehrfürchtige Rezeption der Biografie-Schmonzette von Didier Eribon (2016) in der Soziologie in Deutschland. Dieses Beispiel ist besonders ärgerlich, weil sich Eribon durchaus Verdienste in der Zusammenarbeit mit einem großen Meister, Claude Lévi Strauss, erworben hat (Lévi-Strauss, Eribon 1996). Annie Ernaux, eine Lehrerin (!), hat demgegenüber Eribon gezeigt, wie man die Sache solide angeht (Ernaux 2017). Soziologen können von diesem Buch viel lernen, insbesondere wenn sie den Bogen schlagen zu Pierre Bourdieu, „Die biografische Illusion“ (1990), in einer revidierten Fassung wieder abgedruckt in Bourdieu 1994, S. 75-83. Vgl. dazu Hildenbrand (2018a), Kap. 5.7. Während das Buch von Eribon es im ersten Jahr auf 6 Auflagen brachte, sind es im Fall des Buchs von Ernaux 3 Aufl. im ersten Jahr, jeweils bezogen auf die deutschen Übersetzungen.

Während Strauss und Glaser in ihrer Studie „Anguish“ (1970) der Kategorie des Falls noch einen hohen Stellenwert zubilligen (vgl. Kap. IV), verliert diese bei Strauss in den folgenden Jahren an Bedeutung, und auch Glaser hat sich nicht weiter darum gekümmert. Danach präferiert Strauss den Quervergleich durch Fälle hindurch (pers. Mitteilung). Ich hingegen halte an der Einheit des Falls fest (Hildenbrand 2005, 2014).

Die Fernsehserie „Tatortreiniger“ bezieht ihren Reiz aus in der Regel unverhofft auftretendem Umschlag routinemäßiger, alltäglicher Handlungsabläufe in die Realisierung offener Möglichkeiten.

Ein Versuch, den Verlag Huber, Bern, zu einer deutschen Ausgabe dieses wichtigen Buches zu bewegen, ist leider gescheitert.

Als Soziologe bin ich Diagnosen gegenüber notorisch skeptisch, entsprechende theoretische Ansätze aus den 1970 er Jahren sind heute allerdings in Vergessenheit geraten (Cicourel 1968). Inzwischen haben es die Mediziner und Therapeuten selbst übernommen, angemessene Konzepte vorzuschlagen (Wieland 2004, Levold und Lieb 2017). In der Sozialpädagogik allerdings gilt die Erstellung einer Diagnose manchen immer noch als „üble Nachrede“ (Kunstreich 2003).

Auf Details muss ich aus Gründen des Klientenschutzes verzichten; es sollte jedoch nicht der Eindruck entstehen, wir hätten, Frau Mailänder ignorierend, ein philosophisches Privatissimum abgehalten. Dieses Gespräch entstand aus der Pragmatik der Situation heraus und war im Wortsinne „grounded“, Frau Mailänder war durchweg einbezogen.

Ich spiele auf einen Film des Schweizer Regisseurs Alain Tanner an, der in gewisser Weise das Thema der „Unberührbaren“ vorwegnimmt. Auch hier geht es um eine eingefrorene biografische Situation, die durch eine unerwartete Handlung aufgefroren wird.

An dieser Stelle stehen wir, was die Rezeption des Werks von Anselm Strauss nach seinem Tod anbelangt, an einem Scheideweg. Während die einen, wie z. B. Adele Clarke (2005), die Grounded Theory in ein postmodernes Fahrwasser leiten wollen, dabei ignorierend, dass Anselm Strauss an dieser Stelle sich von seinem Weggefährten Noman K. Denzin (pers. Mitteilung) getrennt hat, hält Kathy Charmaz (2006) am strukturalen Pfad, der mit der CM ermöglicht wird, fest. Ob allerdings in Bezug auf die Grounded Theory die von ihr vorgeschlagene Unterscheidung zwischen einer konstruktivistischen und einer objektivistischen Richtung trägt (2006, S.129ff.), will ich bezweifeln, da es sich dabei um eine Einladung zur Simplifizierung handelt. Dieses Problem hat William H. Sewell (1992) besser gelöst, wenn auch nur auf theoretischer Ebene. Um Theoriebildung fern jeder materialen Orientierung geht es hier allerdings nicht. Daher sei diese Debatte hier abgeschlossen.